Schrei Aus Der Ferne
Kleine Geschäfte und einfache Cafés und Jugendliche in Kapuzenshirts, die an den Straßenecken rumhingen, sich gelegentlich aufrafften, um auf den Gehsteig zu spucken oder den Schritt einer tief hängenden Hose neu zu arrangieren. Männer mit bleichen Gesichtern und räudigen Hunden saßen direkt neben Geldautomaten und bettelten. Der Verkehr quälte sich auf vier Spuren dahin.
Alan Effords Wohnung war im obersten Stock, und der Geruch von langsam gegartem Fleisch und Chilisauce aus dem Kebabladen im Erdgeschoss folgte Helen die Treppe hinauf.
Der Kontrast zu Cordons Lebensweise hätte nicht größer sein können. In der Ecke neben der Spüle Pappschachteln von McDonald’s, leere Bierdosen, auf dem Tisch ein Teller mit den Resten des Fertiggerichts vom Abend zuvor. Ungebügelte und möglicherweise ungewaschene Kleidungsstückehingen auf den Rückenlehnen der Stühle, andere waren in eine Tüte vom Waschsalon gestopft. Oben auf der Mikrowelle stand ein kleines Fernsehgerät, auf dem die Pferderennen liefen.
Zum Glück war es Helen gelungen, vor dem Geruch nach abgestandener Luft und Hoffnungslosigkeit nicht zurückzuschrecken, als Efford von der Tür zurücktrat, um sie hereinzulassen.
Er war unrasiert und seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Wahrscheinlich ist er gerade erst aufgestanden, dachte Helen. Sein Jeanshemd schien einmal gut gewesen zu sein, aber jetzt war es voller Flecken und eine Naht ging auf.
»Danke für Ihre Bereitschaft, sich mit mir zu treffen«, sagte Helen.
Efford zuckte die Achseln. »Als Sie mich aus heiterem Himmel angerufen haben, hab ich zuerst geglaubt, Sie hätten was Neues rausgefunden. Sie oder dieser andere Bulle. Wie hieß er noch mal? Cordon? Über das, was mit Kellys Freundin passiert ist. Aber darum geht’s gar nicht, oder?«
»Nicht direkt, nein.«
»Ach so? Worum denn dann?«
»Sie sagten, wir hätten vielleicht etwas Neues gefunden – Sie glauben also nicht, dass es ein Unfall war?«
»Doch, schon. Ich meine, was soll es sonst gewesen sein? Aber dieser Cordon, der wollte das nicht wahrhaben. Und man sieht’s ja auch immer wieder, stimmt’s? Heutzutage. In der Glotze. Dieses Programm – wie heißt das? ›Old Tricks? New Tricks‹ – irgendwie so. Wo diese alten Käuze in ungelösten Fällen rumwühlen. ›Cold Case‹, das ist auch so was, oder?«
Helen nickte.
»Darum geht es also?«
»Gewissermaßen, ja.«
Er sah sie einen Augenblick an, als wollte er zu einem Entschluss kommen. »Passen Sie auf, wenn Sie reden wollen, ist das in Ordnung, aber nicht hier. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Kopf und Kragen zu riskieren, weil Sie über die Straße müssen, es gibt ’n Café in der Nähe. Wo auch der Pub is’ und all diese Straßen rumführen. Wie so ’ne Art Insel. Da isses ruhig und man kann so lange sitzen bleiben, wie man will. Und der Tee schmeckt auch nicht nach Pisse. Da treffen wir uns. In zehn Minuten. Okay?«
»Warum gehen wir nicht zusammen hin?«
Efford grinste, hob einen Arm in die Höhe und schnüffelte. »Ich stinke, is’ doch so? Ich stinke und seh scheiße aus.«
»Das ist doch gleichgültig.«
»Mir nicht. Eine Frau wie Sie. Fit. Sie wollen doch nicht gesehen werden, wie Sie mit einem wie mir frühstücken.«
»Es ist doch schon Nachmittag.«
»Aber immer noch Frühstückszeit. Und keine Bange. Ich hau nicht ab. Zehn Minuten, in Ordnung?«
Es wurden zwanzig, und Helen hatte schon mehrmals besorgt auf ihre Uhr gesehen, als Efford schließlich kam. Das Café war nicht ganz das, was sie erwartet hatte, sondern glich einem dieser kleinen Hippielokale, die man in den Seitenstraßen von Cambridge fand: mit erbärmlichen Gemälden an den Wänden und Studenten, die auf ihren Laptops herumhämmerten und Cappuccino tranken, der längst kalt war.
Da die Mittagszeit vorbei war, waren die meisten der Mosaiktische leer und Helen saß mit dem Caffè latte, den sie bestellt hatte, am Fenster. Sie versuchte, Will zu erreichen, aber ihr Anruf wurde umgeleitet, und sie hinterließ eine Nachricht, dass sie ihn hoffentlich später sehen würde, und wenn nicht, gleich am nächsten Morgen.
Als Alan Efford dann doch kam und grinsend die Türaufschob, stellte sie fest, dass eine Verwandlung mit ihm vor sich gegangen war. Frisch rasiert und das Haar mit Gel in Form gebracht, trug er schwarze Cordhosen und ein weißes Hemd, das zerknittert, aber sauber war, und Helen konnte sehen, dass er zu seiner Zeit ein gut aussehender Mann gewesen war.
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