Schrei Aus Der Ferne
geglaubt, dass er das tun würde. Dass er bleiben würde. Na ja, man lernt nie aus. Männer, die sind einfach unberechenbar.«
Da hat sie recht, dachte Helen. »Sind Sie bereit, über Heather zu sprechen?«, fragte sie.
»Bereit? Würde ich nicht sagen. Aber ich tu’s, auch wenn ich nicht glaube, dass es was bringt. Der Abend damals …« Sie schauderte bei der Erinnerung. »Sie war meine beste Freundin, wissen Sie. Und in dem Jahr davor, bevor wir verreist sind, meine ich, haben wir uns immer gegenseitig besucht. Also …« Sie lachte. »Ich war mehr bei ihr als sie bei mir. Ich glaube, ihre Mum wollte das so. Hat das Risiko verringert, Läuse oder sonst eine grässliche Krankheit zu kriegen. Wenn man da ankam, war das Erste: ›Zieht eure Schuhe aus, Mädchen, und lasst sie in der Diele stehen, dann geht nach oben und wascht euch die Hände.‹« Sie lachte noch einmal. »Danach kriegten wir einen Keks. Einen Keks auf einem Teller, wenn’s hochkam zwei, und Saft in ’nem Glas mit Strohhalm. ›Passt auf, dass ihr keine Krümel macht.‹ Aber sie war trotzdem nett, Heathers Mum. Eingebildet, klar, aber das war nicht ihre Schuld. Sie war so erzogen. Is’ bei mir nicht anders, nur dass ich furchtbar ordinär bin.«
Kelly ist hübsch, wenn sie lächelt, dachte Helen. Damals war sie sicher auch hübsch, genau wie Heather, zwei Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
»Waren dort viele Jungs in den Ferien?«, fragte sie. »Dort, wo Sie waren?«
»Auf dem Campingplatz? Ja, ein paar. So eine Clique.«
»So alt wie Sie oder älter?«
»Älter. Vierzehn, fünfzehn.«
»Attraktiv?«
»Sie machen Witze, oder? Ich meine, Sie wissen doch, wie Jungs in dem Alter sind. Die denken nur an Fußball, Autos und Computer. Videospiele. Klar, die machen dreckige Witze. Die machen Bemerkungen.« Kelly zog an ihrer Zigarette und griff nach ihrem Tee, hielt den Becher in beiden Händen vor sich. »Die meisten von denen haben doch nur Kontakt zu Mädchen, wenn sie sich einen runterholen, während so eine Schlampe auf MTV mit dem Arsch wackelt. Oder wenn sie Pornos im Nachtprogramm sehen.«
»Ihr Bruder, Lee, war der auch so?«
»Wenn er nicht den Spanner an der Badezimmertür gemacht hat, ja.«
»Dann hat sich mit den Jungs also gar nichts abgespielt?«
Kelly schüttelte den Kopf. »Wir haben uns gegenseitig aufgezogen, klar. Ich und Heather. Der da ist scharf auf dich oder jener. Aber ich bezweifle, dass sie es waren. Warum sollten sie? Wir hatten ja noch nicht mal ordentliche Titten. Warum fragen Sie das überhaupt?«
»Ach, ich versuche nur, mir ein Bild zu machen.«
»Sie glauben, dass was passiert ist, richtig? Mehr, als dass Heather in die Scheißmine gefallen ist oder so. Aber das stimmt nicht. Das können Sie mir glauben. Wir sind losgezogen, und das hätten wir nicht tun sollen. Wir waren einfach blöd. Diese Brühe, Küstennebel oder wie das genau heißt, ist so schnell gekommen, dass wir uns verlaufen haben. Wir haben uns einmal umgedreht und schon hatten wir keinen blassen Schimmer mehr, wo wir waren. Wir sind stehen geblieben und haben gewartet, dass sich der Nebel verzieht, aber der wurde nur noch dicker und dicker. Am Ende hat Heather gesagt, sie will ’n Stück auf dem Pfad entlanggehen und schauen, ob sie ’ne Stelle findet, wo er nicht so dick ist. ›Du bleibst hier‹, hat sie gesagt. ›Genau hier. Dann weiß ich,wo du bist.‹ Ich hab sie nie wieder gesehen, erst bei der Beerdigung.«
»Haben Sie jemanden rufen hören?«
»Ein- oder zweimal, ja. Und ich hab zurückgerufen, ganz klar, aber das hätte ich mir auch sparen können.«
»Sie haben Ihren Vater nicht gesehen? Oder Ihren Bruder?«
»Ich hab überhaupt nix gesehen, bis ich in dem Bett von diesem komischen Kerl aufgewacht bin. Der hat mir das Leben gerettet, jawohl. Sonst hätte es zwei Beerdigungen gegeben, nicht nur eine.« Sie sah auf die Uhr. »’ne Freundin von mir will vorbeikommen. In ’ner halben Stunde oder so. Ich könnte ihr absagen, wenn Sie wollen.«
»Nicht nötig, eine halbe Stunde reicht«, sagte Helen.
Bei einer weiteren Zigarette gingen sie die Ereignisse des Urlaubs noch einmal durch, sprachen über Heathers Verhältnis zu ihren Eltern und auch zu Kellys Familie.
»Ich würde gerne versuchen, auch kurz mit Ihrem Bruder zu reden, bevor ich zurückfahre«, sagte Helen.
Kelly warf ihr einen Blick zu, der sagte: Tun Sie, was Sie nicht lassen können.
»Sie verstehen sich nicht gut?«
»Das eigentlich
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