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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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»In Ordnung.«
    »Und mach dir keine Sorgen. Den ganzen Tag wird jemand beim Haus sein und aufpassen.« Er nickte in Richtung des dunklen Fensters. »Du wirst nicht allein sein.«
    »Ich weiß.«
    Er zog sie fester an sich. »Hier bist du sicher.«
    Unbemerkt bewegte sich draußen etwas in der Dunkelheit, und mit einem krächzenden Schrei flog eine Schleiereule in den Nachthimmel, das weiße Gesicht dem Mond zugewandt.
     
    Ruth konnte nicht schlafen. Bruchstückhaft überkamen sie Bilder von ihren Kindern. Beatrices Lächeln wurde zu Heathers Schmerz; Heathers Lachen wurde zu Beatrices Tränen. Den einen Moment hielt sie Heathers Hand und sie gingen unter der strahlenden Sonne am Strand von Aldeburgh entlang. Aber als das Kind sie losließ und lachend davonrannte, um sich gleich darauf umzudrehen und die Zunge herauszustrecken, hatte es Beatrices Gesicht und ihre Stimme, die triumphierte und höhnte. »Neh-neh-neh-neh-neeeh-neh! Ich hasse dich. Hasse dich! Du kriegst mich nicht!«
    Neben ihr lag Andrew und hatte einen Arm ausgestreckt, als wollte er sie sich vom Leib halten. Seine Atmung war gleichmäßig und schwer, wurde nur hin und wieder von einem kleinen Pfeifton unterbrochen. Während der letzten Tage hatte er sich allmählich immer mehr zurückgezogen;zwar nahm er sich die Zeit, bei Ruth zu sein und nach Kräften dafür zu sorgen, dass sie mit der Situation zurechtkam, aber genau das war es, dachte Ruth: Er nahm sich die Zeit. Mehr und mehr flüchtete er sich in die Sicherheit, die Gewissheit seiner Arbeit.
    Als würde der Teil von ihm, der seine Tochter vermisste, langsam taub werden, dachte Ruth: unempfänglich für Schmerz, abgehärtet gegen Verletzung. Als wüsste er bereits, dass er sie nicht wiedersehen würde, nicht lebend, und schützte sich, so gut er konnte. Er lebte bereits mit seiner Trauer.
    Ruth berührte seine Schulter und war überrascht, wie warm seine Haut war. Vielleicht stimmte es nicht, was sie gedacht hatte, vielleicht war es ungerecht gewesen. Sie beugte sich hinunter und küsste ihn auf den Arm, dann stand sie leise auf. Ihr Morgenmantel hing hinter der Tür. Im Badezimmer spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und kämmte ihr Haar. Putzte sich die Zähne. Halb drei. Vor dem Fenster auf dem Treppenabsatz schimmerten gedämpft die Lichter der Stadt, und sie konnte sehen, wie sich die Wolken langsam über den Himmel bewegten.
    Der Mond war dreiviertel voll.
    In der Küche machte sie Pfefferminztee und spontan auch Toast mit Butter.
    Heather?
    Als sie sich zur Tür umdrehte, war niemand dort.
    Sie trug den Tee und den Toast ins Wohnzimmer und stellte das Radio leise an; jemand spielte Bach, die Cellosuiten, aber sie wusste nicht, wer. Vorsichtig nahm sie das Buch vom Regal, das sie in Paris gekauft hatte, Bilder von Monets Garten: Seerosen, Glyzinien, ganze Büschel von Malven und Kletterrosen. So schön. Unwirklich. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dieser Urlaub, als sie in der Nacht mit Simon draußenim Café gesessen hatte, so glücklich, wie sie es je gewesen war, und ohne es zu wissen, hatte sie auf den Anruf gewartet, der ihr Leben auseinanderreißen würde.
    Andrew fand sie um fünf im Wohnzimmer. Sie schlief. Halb trug er, halb führte er sie zurück ins Bett. Als er fast drei Stunden später fortging, schlief sie immer noch. Sie schien vollkommen erschöpft zu sein.
    Nur ein Pressefotograf war draußen vor dem Haus; er war müde und gelangweilt und machte sich nicht die Mühe, seine Kamera zu heben, als Andrew an ihm vorbeifuhr.
    Ruth wusste beim Aufwachen nicht, wo sie war; Stimmen störten sie, Stimmen in ihrem Kopf. Nein, nur eine Stimme. Simons. Wieder und wieder rief er ihren Namen. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf, um die Stimme auszusperren.
    Dann Kieselsteine, Kieselsteine am Fenster.
    Sie zog den Vorhang zur Seite und sah hinunter.
    Simon stand auf dem schmalen Weg zwischen der Pforte und der Haustür. Jetzt sah er nach oben, winkte und rief ihren Namen.
    Er trug einen alten Dufflecoat und Khakihosen. Der Mantel, der ihm vielleicht einmal gepasst hatte, war jetzt mehrere Nummern zu groß, sodass er wie eine zum Leben erweckte Vogelscheuche aussah, die mit einem Arm wedelte.
    Geh weg, dachte Ruth. Geh einfach weg und lass mich in Ruhe.
    Aber er hatte nicht die Absicht zu gehen.
    Schnell zog sie sich ein Hemd, einen Pullover und eine alte Jeans über. Sie öffnete die Haustür und trat hinaus auf die Stufen. Hinter ihr fiel die Tür sachte zu.
    Die kalte

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