Schrei Aus Der Ferne
Luft schlug ihr entgegen.
Sie war zwar angezogen, hatte aber ihr Haar nicht gebürstet oder gekämmt und fühlte sich ungeschützt.
»Was willst du?« Selbst ihre Stimme klang fremd.
»Ruth …« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ich wäre früher gekommen, aber …« Er sah zu Boden. »Ich wollte nur sagen … sagen, wie leid … wie furchtbar leid mir tut, was passiert ist. Wirklich furchtbar, furchtbar leid.«
»Danke.«
»Ich weiß … natürlich weiß ich …« Seine Finger spielten unablässig mit den Holzknebeln an der Vorderseite seines Mantels. Fummel. Fummel. Das Leuchten, das sie zuvor in seinen Augen bemerkt hatte, war von etwas anderem abgelöst worden.
»Willst du mich nicht …?« Er sah auf die Tür hinter ihr. »Willst du mich nicht reinlassen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Auf der Straße fuhr langsam ein Auto vorbei, ohne jedoch anzuhalten; auf dem Rasen suchte eine Amsel nach Würmern; der einsame Fotograf hatte schon vor geraumer Zeit seine Ausrüstung zusammengepackt und war gegangen.
»Aber ich … wir … ich kann dir helfen, alles zu verstehen. Das weißt du doch. Ich weiß schließlich, wie es ist. Wie es ist, wenn so etwas passiert. Oder etwas Ähnliches. Dein kleines Mädchen.«
Ruth schauderte innerlich.
»Und es gibt niemanden sonst«, fuhr er fort. »Kein anderer versteht das. Andrew auf keinen Fall. Wie soll jemand das verstehen können? Aber du und ich, wir wissen, wie es ist. Wir kennen das.«
»Simon. Geh nach Hause. Bitte. Lass mich in Ruhe.«
»Ruth, bitte …«
Sie griff nach dem Türknauf. »Ich gehe jetzt wieder ins Haus.«
»Ruth, das kannst du nicht.« Er kam auf sie zu, einen flehenden Ausdruck in den Augen. »Du brauchst mich. Wirklich.Ich kann dir helfen, sie zu finden. Du wirst schon sehen.«
Sie ging schnell ins Haus, drückte die Tür fest hinter sich zu und hörte seine letzten Worte nicht.
»Ruth, ich weiß es, darum geht es. Beatrice. Ich weiß, wo sie ist.«
68
Eine klare Nacht ohne Wolken hatte die Temperatur sinken lassen. Sechs Grad, vielleicht noch weniger. Plötzlich hatte Will Bedenken. Sollte er wirklich zur Arbeit gehen und Lorraine und die Kinder allein lassen? Lorraine erklärte jedoch, sie könnte es überhaupt nicht gebrauchen, wenn er den ganzen Tag zwischen ihren Füßen herumliefe und sich nichts sehnlicher wünschte, als anderswo zu sein. »Dieser Mitchell Roberts. Nach allem, was du gesagt hast, stehst du kurz davor, ihn zu fassen. Je eher du ihn findest, desto schneller wird für uns alle wieder Normalität einkehren. Und außerdem sind wir hier sicher, das hast du selbst gesagt.«
Als Will hinüberging, um Helen auf dem Rastplatz zu treffen, konnte er seinen Atem schwach in der Luft sehen. Helen lehnte sich auf die übliche Art mit dem fast rituellen Tee und der Zigarette an ihren Wagen. Wie viele Tage hatten sie schon so begonnen?
»Wir müssen damit aufhören, uns auf diese Weise zu treffen«, sagte Helen mit einem Lächeln.
»Ich dachte, das hätten wir.«
»Du hast mich vermisst, gib es zu.«
»Eigentlich nicht.«
»War jemand da, um die Scherben zu kitten und dir die Hand zu halten?«
»Mich aufzuziehen, meinst du.«
»Nun, du hattest ja Ellie. Jünger als ich und hübscher.«
Will schüttelte den Kopf.
»Was ist los?« Helen lachte. »Macht sie es dir nicht so schön wie ich?«
»Zum Glück nicht.«
Helen nickte in Richtung des Imbisswagens, wo eine kleine Gruppe von Lastwagenfahrern mit den Händen in den Taschen dastand und auf ihre Brötchen mit Frühstücksspeck wartete, dessen Geruch mit dem Dieselgestank in der Morgenluft wetteiferte. »Nimmst du was zu essen?«
»Ich glaube nicht.«
Helen zündete sich noch eine Zigarette an. »Ich habe gehört, was gestern passiert ist. An der Schule. Ist alles in Ordnung mit Lorraine und den Kindern?«
»Einigermaßen.«
»Kein Zweifel, dass es Roberts war?«
»Anscheinend nicht.«
»Es ist wohl was Persönliches, oder? Er rächt sich an dir, wie er nur kann.« Sie rollte einen Kieselstein unter ihrem Fuß hin und her. »Vielleicht, wenn du ihn nicht so bedrängt und sofort nach seiner Entlassung aufs Korn genommen hättest …«
»Was hätte ich denn tun sollen? Nichts?«
»Du hast ihn provoziert. Bist ihm zu nahegetreten.«
»Natürlich bin ich ihm nahegetreten! Willst du etwa eine zweite Christine Fell? Eine zweite Martina Jones?«
»Nein, aber auf diese Weise …«
»Auf diese Weise was?«
»Ist die Situation
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