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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Ewigkeiten dauern. Du kannst nicht bis dahin hier warten. Du wirst verrückt.«
    »Vielleicht.« Sie lächelte flüchtig. »Ich glaube nur nicht,dass ich weggehen kann, nicht so schnell. Nicht nach   … Ich hätte das Gefühl, ich würde sie verlassen, sie zurücklassen. Heather. Ich weiß, das ist Unsinn, aber   …« Sie schüttelte den Kopf und seufzte.
    Simon setzte sich auf die Bettkante. »Ich weiß nicht«, sagte er.
    »Tu es«, sagte Ruth. »Fahr nach Hause.«
    »Wenn du dir sicher bist.«
    »Ich bin mir sicher.« Er wollte weg, sie wusste es, sie las es in seinen Augen, und seine Stimme verriet es ihr auch.
    »Warum lässt du nicht deine Eltern kommen? Sie haben es schließlich angeboten. Dann hast du wenigstens Gesellschaft.«
    Ruth schüttelte den Kopf. »Mir ist es lieber, wenn ich allein bin.«
    Simon erhob sich. »Okay, wenn du es so haben willst. Aber mach doch jetzt einen Spaziergang mit mir.«
    Sie griff nach oben und drückte seine Hand. »Nein, geh du. Ich versuche, noch ein wenig zu schlafen, wenn ich kann.«
    In weniger als zehn Minuten war er fertig angezogen und beugte sich hinunter, um Ruth auf die Stirn zu küssen, bevor er ging. Aber anstatt sich wieder hinzulegen, blieb sie sitzen und starrte an die Wand gegenüber, auf die Stelle zwischen den beiden Fenstern. Sie sah nichts, nur das, was nicht da war, und der Verlust fiel über sie her, traf sie tief in ihrem Innersten, wo er sich verknotete, bis sie ihn nur noch freisetzen konnte, indem sie ihre Arme und ihre Beine ausbreitete, den Kopf zurückwarf und heulte wie eine Besessene.
     
    Kurz nach zehn an diesem Morgen klopfte das Mädchen an Cordons Tür: Stachelhaare, blasse Haut, Silberring in der Oberlippe   – neu, seit Cordon sie das letzte Mal gesehen hatte   – und genügend Stecker und Ringe an anderen Stellen, dasssie einen eigenen Laden hätte aufmachen können. Schwarzes T-Shirt , schwarze Jeans, weißer Lippenstift, blutrote Fingernägel. Ihre Mutter hatte sie Rose getauft, aber sie zog Letitia vor   – Freude und Fröhlichkeit   – und sah darin keine Ironie.
    Cordon war ihr begegnet, als sie erst dreizehn war. Im Schneidersitz hatte sie auf dem Bett in der verwahrlosten Wohnung ihres Freundes gesessen. Er war auf Drogen, und sie hatte sich Heroin direkt in die Vene gespritzt. Jetzt war sie sechzehn, älter, als sie ohne seine Zuwendung vielleicht geworden wäre, und half aus, indem sie an den meisten Wochenenden und gelegentlich an Sommerabenden Cordons Springer Spaniel ausführte. Taschengeld, bar auf die Hand. Cordon stellte keine Fragen, wo es hinging.
    »Ich geh mal mit dem Hund«, sagte sie.
    »Sie hat einen Namen.«
    »Ich weiß.«
    Beim Klang ihrer Stimme war die Hündin unter dem Tisch aufgesprungen und hatte begonnen, mit dem Schwanz zu wackeln.
    »Ich hatte eigentlich vor, sie selbst auszuführen«, sagte Cordon.
    »Wie Sie wollen.« Sie drehte sich wieder zur Tür um.
    »Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?«, fragte Cordon.
    »Wusste ich gar nicht.«
    »Also dann   …«
    »Hab’s auf gut Glück probiert.«
    »Ärger zu Hause?«
    »Warum sagen Sie das?«
    »Aus gar keinem Grund. Hab nur gefragt.«
    Die Hündin hatte den Kopf an das Bein des Mädchens gelegt und drückte jetzt ihre Schnauze dagegen.
    »Geh du mit ihr«, sagte Cordon. »Sie mag dich lieber.«
    Das Mädchen zuckte die Achseln und fuhr mit den Fingern durch das Fell auf dem Kopf des Tieres und über seinen Rücken.
    »Wieso sind Sie überhaupt hier?«, fragte sie.
    »Ich mach krank.«
    Sie sah ihn misstrauisch an, unsicher, ob er sie veräppelte. In Wirklichkeit wartete er ab, wartete darauf, dass die Kriminalistik mit ihren Ergebnissen rüberkam, befragte noch einmal wichtige Zeugen, alles genau nach Vorschrift   – nach Vorschrift, wie sie ihm zupass kam: Lambert wollte ihn unbedingt auf andere Dinge ansetzen, und Cordon stellte sich auf die Hinterbeine, solange er nur konnte. Deshalb war es keine gute Idee, sein Gesicht öfter als nötig im Büro zu zeigen.
    »Wir gehen dann mal los«, sagte das Mädchen.
    »Letitia   …«
    »Was?«
    »Hast du überhaupt schon gefrühstückt?«
    »Was hat das mit Ihnen zu tun?«
    »Ich wollte gerade Toast machen, das ist alles. Iss mit, wenn du möchtest.«
    Beinahe widerstrebend willigte sie ein. »Aber keine Fragen, okay? Nicht: Wie geht’s deiner Mutter, wie läuft’s in der Schule, nichts von dem ganzen Scheiß.«
    »Gehst du immer noch zur Schule?«
    »Gut, Kia, komm mit, wir sind

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