Schrei Aus Der Ferne
anschauen wolltet?«
»Nein, das war damals noch nicht da. Aber in Aldeburgh waren wir, ja. Vor langer Zeit.«
Beatrice wandte sich ab und krümmte den Rücken.
»Beatrice, du darfst nicht …«
»Ich hasse sie«, sagte Beatrice. »Ich hasse sie.«
Ruth griff nach ihr und fühlte, wie sich ihr Körper versteifte, bevor sie sich umdrehte und sich schluchzend an Ruths Brust drückte.
»Alles ist gut«, sagte Ruth leise, legte das Gesicht an Beatrices Kopf und roch ihren Kleinmädchengeruch, die Wärme der Sonne in ihrem Haar.
»Alles ist gut«, log sie.
28
Auf dem Schild über der Tür stand
Terrence Markham, Maßschneider
. In dem kleinen Fenster auf der einen Seite war ein einziger Dreiteiler ausgestellt, dunkelblau mit hauchfeinen pinkfarbenen Nadelstreifen. Kein Preis. Helen wollte nicht einmal raten.
Die Glocke über der Tür bimmelte beruhigend altmodisch, wenn man eintrat. Eine Reihe von Anzügen, sorgfältig abgestuft von Schwarz zu Blassgrau, hing in zwei offenen Einbauschränken auf der linken Seite des kleinen Innenraums, Stoffballen lagen auf Regalen darüber und darunter; gegenüber gab es Hemden und Socken und in einer Vitrine eine Auswahl von Krawatten, die meisten gestreift, einige mit den Wappen der Colleges.
Der Tür gegenüber stand ein Mann hinter einem Holztisch, maß eine Stoffbahn ab und sah auf. Er war etwa einen Meter achtzig groß, schlank und trug eine Brille. Für einen Mann, der noch nicht ganz vierzig war, wurde sein Haar vorzeitig grau.
»Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hätte nicht geglaubt«, sagte Helen und sah sich um, »dass es noch Geschäfte wie dieses hier gibt.«
Er lächelte; es war ein gutes Lächeln, ehrlich und offen, dachte Helen. Diesem Mann würde man einen maßgeschneiderten Anzug abkaufen – wenn das Bankkonto es erlaubte.
»Weil man einfach zu Asda in der Burleigh Street oder Coldhams Lane gehen und für vierzig Pfund und etwas Kleingeld einen von der Stange kaufen kann, meinen Sie?«, sagte er.
»So in etwa.«
»In einer Stadt wie dieser gibt es immer Leute, die Qualität zu schätzen wissen und bereit sind, dafür auch zu bezahlen. Und die es auch können. Dann sind da natürlich noch die Touristen, Gott segne sie, die es nach guter englischer Traditionsware verlangt und die sich gerne ihre Mehrwertsteuer zurückerstatten lassen wollen.«
Helen erwiderte sein Lächeln. »Sind Sie schon lange hier?«
»Noch nicht so lange. Aber den Laden gibt es schon seit Jahren.«
»Aber es war nicht immer ein Schneider?«
»Oh doch. Burns Brothers. Früher hatten sie zwei Geschäfte, dieses und noch eins in der Portugal Street. Als ich mit der Schule fertig war, habe ich als Zuschneider für sie gearbeitet. Und dann noch einmal bis vor sechs Jahren. Ich habe dieses Geschäft für sie geleitet, um genau zu sein.«
»Und jetzt gehört es Ihnen.«
»Maurice, der ältere Bruder, ist gestorben. Leonard fand, dass es langsam reichte, und hat sich in seinem Haus in Zypern zur Ruhe gesetzt. Bis der Gerichtsvollzieher kommt, gehört es mir.« Er lächelte wieder. »Das sind viel mehr Informationen, als Sie eigentlich benötigen.«
»Keineswegs.«
»Worum handelt es sich überhaupt? Etwas für Ihren Mann oder Ihren Freund? Eine Feier? Geburtstag? Jahrestag?« Noch ein Lächeln. »Vielleicht wollen Sie heiraten?«
»Diesen Monat nicht.« Helen zog ihren Polizeiausweis aus der Tasche.
»Oh.« Das Lächeln verschwand. »Ich hab mir schon die Frage gestellt, ob es jemand herausfinden würde. Jemand, der zwei und zwei zusammenzählt und versucht, fünf rauszubekommen.«
»Fünf?«
»Nach diesem furchtbaren … nachdem Linda gestorben ist … habe ich damit gerechnet, dass die Polizei vorbeikommt. Auch wenn ich hinten in der Werkstatt war, bin ich bei jedem Läuten der Ladenglocke rausgekommen und habe zwei stämmige Männer in Uniform erwartet –
Kommen Sie mit aufs Revier
–, wie man es im Fernsehen sieht, wissen Sie. Und als nichts passierte, wurde mir klar, dass vielleicht niemand etwas ahnt. Deshalb habe ich geschwiegen. Ich hielt es für das Beste.«
»Für Sie.«
»Natürlich für mich. Ich kann doch nichts mehr für Linda tun. Auch nicht für Paul.«
»Und für Carl? Den kleinen Jungen?«
Markham hob die Hände ans Gesicht. »Es geht ihm doch gut? Ich meine, man kümmert sich um ihn?«
»Ja. Seine Großeltern.«
»Mit der Zeit wird er darüber hinwegkommen.«
»Glauben Sie?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Ich
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