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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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kann mir nicht vorstellen   …« Er schüttelte energisch den Kopf, als wollte er den Gedanken vertreiben. »Wissen Sie«, sagte er und sprach etwas aus, an das auch Helen schon gedacht hatte. »Carl. Es gab eine Zeit, da habe ich geglaubt, er wäre mein Sohn.«
    »Und das ist nicht der Fall?«
    »Nein.«
    »Sind Sie sicher?«
    Dieses Mal war das Lächeln anders, trocken und etwas traurig. »Ganz sicher. Ich bin sogar so weit gegangen, Beweise zu verlangen. Die Blutgruppe des Jungen, DNA.   Er war Pauls Sohn, nicht meiner.« Seine Stimme verriet einen Anflug von Bedauern. »Sonst   …«
    Einen Augenblick glaubte Helen, er würde anfangen zu weinen, aber stattdessen nahm er ein Taschentuch aus derTasche   – kein Papiertaschentuch, bemerkte sie, sondern ein richtiges aus Leinen   –, setzte seine Brille ab, putzte sich die Nase, steckte das Taschentuch wieder ein und setzte die Brille wieder auf. Selbstbeherrschung.
    »Es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde«, sagte Helen. »Ich möchte ein paar Klarstellungen. Der Form halber.«
    »Wollen Sie, dass ich aufs Revier komme?«
    »Irgendwann, ja, um eine Aussage zu machen. Vor der gerichtlichen Feststellung der Todesursache.«
    »Und jetzt   …?«
     
    Sie gingen die Magdalen Street entlang und erreichten das Gelände eines der kleineren Colleges, eines der wenigen, in dem Besucher nicht bezahlen mussten, um ihre Neugier zu stillen, die Architektur und alles andere zu bewundern.
    Helen erwog, sich eine Zigarette anzuzünden, hielt sich aber zurück, weil sie befürchtete, eine Vorschrift zu verletzen und hinausgeworfen zu werden.
    Markham schien seine Hände zu inspizieren und die Länge seiner Fingernägel zu überprüfen. »Wir waren zusammen in der Schule«, sagte er schließlich. »Linda und ich. In der Oberstufe. Unterschiedliche Kurse, aber derselbe Jahrgang. Ich war dermaßen verknallt in sie, dass ich sie auf Schritt und Tritt verfolgt habe. Wie ein Hündchen. Wie ein Wahnsinniger. Kein Wunder, dass sie mich keines Blickes gewürdigt hat.
    Dann bin ich weggegangen, um Textildesign zu studieren, aber eins kam zum anderen und es hat nicht geklappt, also kehrte ich nach Cambridge zurück, und es gelang mir, Arbeit bei Burns Brothers zu bekommen. Leonard hatte mich aus irgendeinem Grund ins Herz geschlossen und brachte mir so gut wie alles bei, was ich kann. Linda war an die Universität gegangen, um Architektur zu studieren, und dort lernte siePaul kennen. Sie heirateten und lebten irgendwo im Nordosten, aber es gab Probleme   – seine Familie, glaube ich   – und sie kamen hierher zurück.
    Inzwischen war ich nach Italien gegangen, einer Frau hinterher, die ich kennengelernt hatte, als sie hier einen Sommerkurs machte. Es war die reine Katastrophe!« Er lächelte wehmütig. »Man sollte denken, ich hätte aus der Vergangenheit gelernt.«
    Manche Leute tun das nie, dachte Helen. Das galt auch für sie selbst.
    »Einen Tag, nachdem ich zurückgekehrt war, ging ich auf der Rückseite der Colleges am Fluss spazieren und lief in sie hinein. In Linda. Fast buchstäblich. Ich hatte beim Gehen die Gedanken ganz woanders, und sie las ein Buch. ›Pepsi Hotel‹, so hieß es. Ich weiß es noch heute. Kurzgeschichten, glaube ich. Amerikanische. Als wir mit den gegenseitigen Entschuldigungen fertig waren, begannen wir zu reden. Erzählten uns, was wir in der Zwischenzeit gemacht hatten. Dann sagte sie, sie müsse gehen, und ich fragte, ob wir uns mal treffen könnten, auf einen Kaffee oder so. Ich erwartete gar nicht, dass sie ja sagen würde, aber sie tat es.
    Wir trafen uns ein paarmal. Wir haben uns nur unterhalten, das war alles. Wir sind uns nicht irgendwie nähergekommen, da ist wirklich nichts passiert, aber trotzdem fand Linda es nicht richtig, das habe ich gemerkt, und als sie sagte, wir könnten uns nicht wiedersehen, war ich nicht überrascht. Sie bat mich, mich nicht mehr bei ihr zu melden, und ich willigte ein. Nach ein paar Monaten rief sie mich im April aus heiterem Himmel an und sagte, sie wolle mich sehen. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, sie zu vergessen, und dann plötzlich das! ›Bitte, Terry, es ist wichtig.‹ Ich wusste nicht, was los war. Es hätte ebenso gut ein verspäteter Aprilscherz sein können.
    Wir trafen uns weit draußen vor der Stadt, in der Nähe von Wicken Fen. Sie sagte, sie hätte immer an mich denken müssen, wie sehr sie sich auch dagegen gewehrt hätte. Es war ziemlich verrückt, hemmungslos.

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