Schrei der Nachtigall
fuhr mit dem Aufzug in den einundzwanzigsten Stock des noblen Hauses, das sich nur jene leisten konnten, die das nötige Kleingeld besaßen.
»Sie haben ja hier höchste Sicherheitsstufe«, sagte Brandt zu Elvira Klein, die ihn an der Tür empfing. »Das kostet doch bestimmt eine Menge extra, oder?«
»Kommen Sie erst mal rein«, entgegnete Elvira Klein mit charmantem Lächeln, ließ ihn an sich vorbeitreten und machte die Tür hinter sich zu. »In diesem Haus befinden sich nicht nur Wohnungen, sondern auch Geschäftsräume. Aber Sie sind doch nicht gekommen, um sich mit mir über meine Wohnung zu unterhalten. Bitte«, sagte sie und deuteteauf einen weißen Ledersessel. So was kann man sich auch nur leisten, wenn man keine Kinder hat, dachte Brandt, der sich unauffällig in der Wohnung umsah. Er kannte in etwa die Preise für Eigentumswohnungen in der Frankfurter Innenstadt, doch bei dieser mochte er sich gar nicht erst vorstellen, was sie gekostet hatte. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ich habe sogar Bier im Haus.«
»Nein danke, ich bin heute schon abgefüllt worden. Ein Glas Wasser würde mir vollkommen ausreichen.«
»Was sind Sie? Abgefüllt worden? Wie habe ich das denn zu verstehen?«
»Ich habe versucht, einem gewissen Herrn Köhler meine Theorie verständlich zu machen, aber er wollte sie nicht hören. Lange Geschichte. Dafür hat er mich fast gezwungen, mit ihm zwei Gläser Schnaps zu trinken.«
»Und darauf haben Sie sich eingelassen? Im Übrigen höre ich heute zum ersten Mal, dass Sie sich zu irgendetwas zwingen lassen«, sagte sie mit leichtem Spott.
»So kann man sich täuschen. Ich dachte nur, ich könnte ihn dadurch vielleicht ein wenig versöhnlicher stimmen, hat aber leider nicht geklappt.«
Sie holte eine Flasche Wasser und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, stellte beides auf einen Beistellwagen neben dem Tisch und schenkte Brandt das Wasser und sich selbst Bier ein. Brandt war überrascht. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Elvira Klein Bier trank. Und er wunderte sich außerdem über die ungewöhnliche Freundlichkeit, die sie bis jetzt an den Tag gelegt hatte. Er erkannte sie kaum wieder, war sie doch sonst eher sprödeund abweisend, spöttisch und herablassend. Vielleicht war die Person, die sie im Alltag zeigte, wirklich nur Fassade, wie Andrea meinte.
»Also, was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte sie und trank einen Schluck.
»Es geht um diesen Wrotzeck-Fall.« Brandt berichtete Elvira Klein im Lauf der nächsten zwanzig Minuten seine bisherigen Ermittlungsergebnisse und seine Theorie und schloss mit den Worten: »Und da liegt der Hase im Pfeffer. Ich muss beweisen, dass Wrotzeck sowohl den Tod von Inge Köhler als auch den von Johannes Köhler herbeigeführt hat. Möglicherweise war es sogar vorsätzlicher Mord, was auch das seltsame Verhalten von diesem Pfarrer erklären würde. Denn wie ich Wrotzeck einschätze, ist er zu Lehnert nicht gegangen, um die Beichte abzulegen, sondern um seinem Zynismus freien Lauf zu lassen. Jedenfalls hat er keine Absolution erhalten, was meiner Meinung nach auch gar nicht sein Wunsch war. Das Bild, das ich von Wrotzeck erhalten habe, zeigt einen Typ, mit dem ich nicht eine Minute zusammen sein wollte. Er hat seine Umwelt traktiert, er war ein Erpresser und wohl auch ein Mörder. Ich war an den Unfallstellen. Wenn dort ein Auto mit achtzig beziehungsweise neunzig Stundenkilometern von der Straße abkommt, schießt es in den Graben und überschlägt sich unweigerlich.«
Elvira Klein hatte sich zurückgelehnt, die Beine übereinander geschlagen und sagte, ohne auf Brandts letzte Worte einzugehen: »Ich kenne mich im Kirchenrecht ein wenig aus, ich musste mich während meines Studiums damit auseinandersetzen. Sollte Wrotzeck die Morde begangenhaben, ohne zu bereuen, was bedeutet, dass er sich freiwillig der Polizei stellt, so darf ein Priester keine Absolution erteilen. Der Priester ist verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, sich der weltlichen Gerichtsbarkeit zu stellen, sonst darf er ihn nicht von seinen Sünden lossprechen. Laut Kirchenrecht ist Wrotzeck damit in seiner Sünde gestorben. Und dass dieser Pfarrer nicht kooperiert, das dürfen Sie ihm nicht übel nehmen, er würde für den Rest seines Lebens nicht mehr glücklich werden.«
»Das ist er doch sowieso schon nicht mehr. Aber das ist nicht mein Problem. Wie kann bewiesen werden, dass Wrotzeck ein kaltblütiger Mörder war? Die Autos sind längst so
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