Schrei der Nachtigall
dass die Beamten sie hatten kommen hören.
»Thomas wird gleich hier sein, er hat noch geschlafen. Was werden Sie jetzt tun?«
»Als nächstes Ihren Sohn befragen, und dann schauen wir weiter.«
»Ich begreif nicht, wie jemand so etwas behaupten kann. Mein Mann war zwar schwierig, aber die Leute hier sindkeine Mörder. Ich würde es jedenfalls niemandem zutrauen. Und Sie werden auch bald feststellen, dass ich recht habe.«
Thomas Wrotzeck kam herein. Er hatte sich eine Trainingshose und ein T-Shirt angezogen und wirkte noch verschlafen. Er war groß, mindestens einsfünfundachtzig, schlank, mit noch breiteren Schultern als auf dem Foto und kräftigen Armen. Seine blauen Augen musterten die Beamten kritisch. Ein gutaussehender junger Mann, der sicher mächtig Schlag bei den Frauen hat, dachte Eberl.
»Thomas, das sind die Polizisten …«
Brandt erhob sich und unterbrach Liane Wrotzeck: »Brandt, Kripo Offenbach, und das ist meine Kollegin Frau Eberl. Ihre Mutter hat Ihnen schon erzählt, um was es geht?« Er reichte Thomas die Hand, der erst zögerte, sie dann aber doch nahm.
»Sie sind hier, weil Sie denken, dass mein Vater umgebracht wurde«, sagte Thomas, ging in die angrenzende Küche, um sich ein Glas Milch einzuschenken, und kehrte gleich darauf zurück. »Also, wie kann ich Ihnen helfen, diesen Unsinn aus der Welt zu schaffen?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, schlug die Beine übereinander und fuhr sich mit einer Hand durch das modisch kurzgeschnittene dunkelblonde Haar.
»Vielleicht, indem Sie uns einfach ein paar Fragen beantworten. Zum Beispiel, wo Sie am Abend des 23. Juli waren.«
Thomas lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ach, so läuft das also. Aber gut, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen. Ich war mit einer Bekannten im Kinopolis im Main-Taunus-Zentrum,wenn Ihnen das was sagt, danach sind wir noch was trinken gegangen, und so gegen eins war ich wieder zu Hause.«
»Und daran können Sie sich so genau erinnern?«
»Hören Sie, wenn man am nächsten Morgen erfährt, dass der eigene Vater tot ist, weiß man, was man am Abend zuvor gemacht hat. Das ist wie ein Film, der immer wieder abläuft.«
»Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater?«, fragte Brandt.
Thomas zuckte mit den Schultern, wandte den Blick für einen Moment ab und antwortete: »Beschissen wäre geprahlt. Und glauben Sie mir eins – ich habe nicht getrauert, als ich erfahren habe, dass er tot ist, und ich werde auch in Zukunft nicht trauern. Dazu ist in der Vergangenheit zu viel vorgefallen.«
»Was denn?«, wollte Eberl wissen.
»Alles Mögliche. Haben Sie so viel Zeit? Es könnte nämlich ein paar Stunden dauern, Ihnen das alles zu erzählen«, sagte er ironisch.
»Thomas, bitte!«, ermahnte ihn seine Mutter, doch er sah sie nur an und schüttelte den Kopf.
»Mama, lass gut sein, irgendwann muss dieser ganze Mist doch mal raus. Ja, ja, ich weiß, er war mein Vater, aber eigentlich nur mein Erzeuger, was anderes fällt mir nicht ein. Er hat mich gezeugt, aber alle Qualitäten, die ein Vater haben sollte, sind ihm völlig abgegangen. Für ihn gab es nur den Hof und noch mal den Hof und wieder den Hof. Seine Kühe, Bullen, Schweine und Hühner waren ihm wichtiger als seine Familie. Da war ja Geld mit zu machen,doch wir haben nur gekostet. Alles andere interessierte ihn einen feuchten Dreck. Der hat sich nie dafür interessiert, wie Allegra und ich in der Schule waren, der hat sogar einige Male unsern Geburtstag vergessen. Und Weihnachten war jedes Mal der reinste Horror, wenn der Alte denn überhaupt zu Hause war.« Er hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. »Aber als ich ihm sagte, dass ich den Hof nicht übernehmen, sondern stattdessen Jura studieren werde, da hätten Sie ihn erleben sollen, der ist ausgeflippt. Ich glaub, der stand kurz davor, mich umzubringen. Aber er wusste, dass ich, wenn er mich angerührt hätte, zurückgeschlagen hätte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hat jedenfalls wochenlang kein Wort mit mir gesprochen.«
»Hätten Sie ihn umgebracht?«, fragte Brandt trocken.
»Wenn Sie mich damit in eine Ecke drängen wollen, in die ich nicht gehöre, haben Sie sich geschnitten. Aber um Sie zu beruhigen, ich hätte den alten Wrotzeck nie umgebracht, dazu ist mir mein Leben in Freiheit viel zu kostbar.« Dabei verzog er die Mundwinkel verächtlich.
»Kennen Sie andere, die ein Motiv gehabt hätten?«
Thomas beugte sich nach vorn
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