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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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und sagte, indem er Brandt direkt anschaute und seine Hände hochhielt: »Sehen Sie die zehn Finger? Nehmen Sie die mal fünf, dann haben Sie vielleicht die Zahl derer, die ihm nur allzu gern ans Leder gewollt hätten. Aber es war ein Unfall, glauben Sie mir. Sie verschwenden nur Ihre kostbare Zeit.«
    Ohne auf die letzte Bemerkung einzugehen, sagte Eberl: »Haben Sie auch fünfzig Namen für uns?«
    »Nein, denn ich werde niemanden anschwärzen. Und sollte es wider Erwarten doch Mord gewesen sein, auch dann werden Sie von mir keine Namen erfahren. Mein alter Herr hat so viel Porzellan zerschlagen und Menschen kaputtgemacht, nee, ohne mich.«
    »Würden Sie denn nicht wissen wollen, wer es war, sollte es doch Mord gewesen sein?«
    »Ganz ehrlich? Nein, denn derjenige hat meiner Meinung nach die Welt nur von einem Tyrannen befreit. Könnten Sie mit meiner Schwester reden, was ja leider nicht möglich ist … Das wird wahrscheinlich nie möglich sein. Meine Mutter hat Ihnen doch erzählt, was passiert ist?«
    »Ja, und das tut uns leid für Sie.«
    »Als das mit Allegra passiert ist, da ist für mich eine Welt zusammengebrochen«, sagte Thomas traurig. »Wenn es jemanden gab, der Sonne in dieses finstere Haus gebracht hat, dann sie. Glauben Sie mir, Allegra fehlt hier. Sie fehlt an allen Ecken und Enden.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Eberl.
    »So, wie ich es gesagt habe. Dieser verdammte Unfall hat alles verändert. Mit einem Mal war Allegra nicht mehr da. Und keine Sau weiß, wann und ob sie überhaupt jemals wieder aufwacht. Aber ich hoffe es inständig.«
    »Wo liegt Ihre Schwester?«
    »In Hanau.«
    »Besuchen Sie sie regelmäßig?« Eberl sah Thomas an, der den Blick senkte und den Kopf schüttelte.
    »Nicht so oft, wie ich eigentlich sollte. Wissen Sie, sie da liegen zu sehen, mit dem Schlauch durch die Nase und denDrähten und diesem Monitor über ihrem Bett, nein, das mag sich für Sie grausam anhören, aber das halt ich einfach nicht aus. Ich liebe meine Schwester über alles, doch ich bring das einfach nicht. Ab und zu geh ich für ein paar Minuten hin, aber … Na ja, Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für einen Schwächling oder sonst irgendwas, aber ich schätze, Sie haben nicht mit einem solchen Problem zu kämpfen. Außerdem könnte ich ihr sowieso nicht helfen. Tut mir leid.«
    »Und Sie?«, fragte Eberl Liane Wrotzeck.
    »Warum interessiert Sie, wann und wie oft ich meine Tochter besuche?«, fragte sie gereizt zurück, die Arme verschränkt. Abwehrhaltung. »Das ist allein meine Sache. Und es ist auch Thomas’ Sache, wie oft er hingeht.«
    »Natürlich, entschuldigen Sie«, sagte Brandt. »Wie alt ist Ihre Tochter?«
    »Achtzehn, sie wird im November neunzehn. Achtzehn, und schon dem Tod geweiht«, seufzte sie.
    »Mama, bitte, wir wissen doch noch gar nicht, ob sie sterben wird«, sagte Thomas und legte den Arm um seine Mutter. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Und an die Beamten gewandt: »Sie müssen wissen, die Ärzte haben damals, nachdem sie eingeliefert wurde, gesagt, dass es für Allegra kaum eine Chance gibt, die nächsten Stunden zu überleben. Aber sie hat die Ärzte Lügen gestraft. Und vielleicht geschieht auch noch das andere Wunder.«
    »Ich wünsche es Ihnen«, sagte Brandt. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
    »Zweiundzwanzig.«
    »Und was machen Sie beruflich? Führen Sie jetzt den Hof?«
    »Um Gottes willen, nein! Ich studiere Jura. Im Oktober beginnt mein fünftes Semester.«
    »Sie wollen also Anwalt werden …«
    »Ich habe noch keine konkreten Vorstellungen, was ich nach dem Studium machen werde. Die Zeit wird es zeigen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
    »Was passiert jetzt mit dem Hof? Ich meine, Sie wollen ihn nicht übernehmen und …«
    »Wir überlegen, ihn zu verkaufen«, wurde Brandt schnell von Liane Wrotzeck unterbrochen. »Es gibt auch schon Interessenten. Ich habe diesen Hof sowieso nie leiden können. Seit ich hier eingezogen bin, habe ich mich nie richtig heimisch gefühlt. Aber das kann nur jemand verstehen, der … Wie gesagt, mein Sohn und ich überlegen, den Hof zu verkaufen. Wenn es sonst nichts weiter gibt, ich habe noch zu tun.«
    »Wir wollen Sie auch nicht länger aufhalten. Wir würden nur noch gerne einen Blick in die Scheune werfen, wo der Unfall passiert ist.«
    »Ich zeig’s Ihnen«, sagte Thomas und erhob sich. Brandt und Eberl verabschiedeten sich von Liane Wrotzeck, die ihnen aus dem Fenster nachsah, bis sie im Dunkel der

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