Schrei der Nachtigall
als würde er es nicht kennen, »das neben meiner Mutter ist Allegra. Das hübscheste Mädchen weit und breit. Zum Glück hat der Alte sie wenigstens nicht mit seinen Drecksfingern begrapscht. Aber er ist regelmäßig in bestimmte Clubs und Bars gegangen und hat dort den Huren das Geld in den Rachen gestopft. Der hat so viel Geld bei seinen diversen Damen gelassen, davon hätte man bestimmt zwei oder drei tolle Einfamilienhäuser bauen können. Aber er hatte es ja, dieser Hof wirft schließlicheinen außergewöhnlich hohen Ertrag ab. Vor allem seine beiden Zuchtbullen.«
Mit einem Mal lachte Thomas auf und schüttelte den Kopf, zog die Stirn in Falten und sah Brandt an.
»Ich erzähle Ihnen jetzt eine kleine Geschichte, die aber nicht für andere Ohren bestimmt ist, von der ich jedoch genau weiß, dass sie wahr ist, weil sie einfach zu meinem alten Herrn passt. Der hat nämlich seine Kunden ganz schön geleimt. Die Zuchtbullen sind die meiste Zeit im Stall. Sie werden zwischen April und Oktober nur zwei Stunden pro Tag nach draußen auf eine spezielle Weide gelassen, damit sie schön gesund bleiben. Wir haben aber noch eine andere Bullenweide, wo die Viecher bis auf den Winter die ganze Zeit draußen sind, genau wie die Kühe. Der Samen von den Zuchtbullen ist ziemlich teuer, das heißt, wenn ein Kunde kommt und eine seiner besonderen Kühe besamen lassen möchte, muss er schon ein paar große Scheine auf den Tisch legen. Nur, bekommt der Kunde auch die Ware, die er geordert hat?« Thomas lachte wieder auf und fuhr fort: »Na ja, nicht immer, denn der alte Wrotzeck hat mit unserem geschätzten Viehdoktor Dr. Müller, der ganz gut an meinem Vater verdient hat, ein paar nicht sehr schöne Geschäfte gemacht. Dabei ging es darum, dass der Samen der Zuchtbullen mit dem von andern Bullen einfach gemischt wurde, beim Wein würde man panschen sagen. Merkt ja eh keiner, dass der Samen nicht rein ist. So hat mein alter Herr für relativ wenig ziemlich viel bekommen. Der hat seine Kunden dermaßen gelinkt, aber bis heute hat sich keiner beschwert.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ich hab mal zufällig ein Gespräch zwischen den beiden belauscht. So, war das alles, oder haben Sie noch Fragen? Ich hab nämlich noch ein bisschen was zu tun, denn seit der Alte in der Grube liegt, muss ich kräftig mit anpacken.«
»Woher wissen Sie das mit den Huren?«
»Ich bin ihm mal nachgefahren«, antwortete Thomas lässig.
»Und was hat Ihre Mutter dazu gesagt?«
»Keine Ahnung, ob sie’s weiß, ich hab’s ihr jedenfalls nicht erzählt. Noch was?«
»Nein, vorerst war’s das. In welchem Krankenhaus liegt Ihre Schwester?«
»Wieso, wollen Sie sie besuchen?«
»Vielleicht.«
»Im Hanauer Klinikum. Und viel Erfolg bei der Mörderhatz.«
»Ich denke, Sie sind überzeugt, dass es ein Unfall war«, bemerkte Brandt ironisch.
»Sicher, aber Sie sind anderer Meinung. Mal schauen, wer recht hat. Wir werden uns ja bestimmt nicht das letzte Mal gesehen haben. Wiedersehen.«
»Wiedersehen.«
Brandt stieg in seinen Wagen, der im Innern durch die unerträgliche Hitze einem Glutofen glich. Bevor er den Motor anließ, sah er einen kleinen schmächtigen Mann auf einem Fahrrad auf den Hof einbiegen. Er trug einen beigefarbenen Sommeranzug und ein weißes Hemd und hellbraune, luftige Schuhe. Ein südländischer Typ, vermutlich Italiener, dachte Brandt, drehte den Zündschlüssel und stellte die Klimaanlage an. Er hatte noch Zeit und wollte, bevor er zurück nach Offenbach fuhr, einen Abstecher in die Klinik machen. Warum, wusste er selbst nicht, vielleicht, weil jeder, mit dem er bisher gesprochen hatte, so sehr von Allegra Wrotzeck geschwärmt hatte.
Mittwoch, 17.50 Uhr
Brandt erkundigte sich an der Information, wo Allegra lag, fuhr mit dem Aufzug nach oben und klingelte an der Tür zur Intensivstation. Eine Schwester kam, er zeigte seinen Ausweis und bat darum, Allegra sehen zu dürfen.
»Zimmer drei«, sagte die zierliche Person mit zuvorkommendem Lächeln. »Haben Sie ein Handy dabei?«
»Oh, Entschuldigung, ich mach’s schon aus.« Er schaltete es aus und steckte es wieder ein.
»Haben Sie schon einmal einen Wachkomapatienten gesehen?«
»Nein«, antwortete er.
»Es ist, als ob sie schlafen, nur mit dem Unterschied, dass sie die Augen die meiste Zeit offen haben. Bei Allegra ist es nicht viel anders.«
»Was meinen Sie mit nicht viel anders?«
»Na ja, bei ihr haben wir immer öfter das Gefühl, als würde sie ihre Umwelt
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