Schrei der Nachtigall
Scheiße, große gottverdammte Bullenscheiße! Ich sprechemit ihr, ich halte ihre Hand, aber da kommt nichts zurück, absolut nichts. Sie glauben gar nicht, wie sehr meine Mutter darunter leidet. Und ich spiel immer den Starken, obwohl ich jedes Mal heulen könnte, wenn ich an Allegra denke oder sie sehe. Wenn es einen Gott gibt, dann frag ich mich ernsthaft, wo er war, als das passiert ist, und warum er das überhaupt zugelassen hat. Die beiden haben doch niemandem etwas getan. Wie kann ein Auto mitten in der Nacht auf einer um diese Zeit kaum befahrenen Straße sich einfach so überschlagen? Ich versteh’s nicht und werd’s wahrscheinlich auch niemals verstehen.«
»Aber Ihr Vater war mit der Beziehung nicht einverstanden«, sagte Brandt, der zwar schon die Version von Thomas’ Mutter kannte, aber es aus Thomas’ Mund hören wollte.
»Nicht einverstanden?« Thomas sprang auf und tigerte im Zimmer hin und her, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Seine Kiefer mahlten aufeinander, sein Blick war düster. »Der war nicht nur nicht einverstanden, der hat alles darangesetzt, die beiden auseinander zu bringen. Aber er hat es nicht geschafft, und das hat ihn noch wütender gemacht. Allegra und der Sohn seines größten Feindes, das ist ihm so was von gegen den Strich gegangen. Als die beiden noch Kinder waren, hat es ihm nichts weiter ausgemacht, aber später, als … Ist ja auch egal. Ein paarmal hat er Allegra eingesperrt, einfach so, um sie zu ärgern, aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie hätten Allegra erleben müssen, als sie noch da war. Hab ich das nicht vorhin schon mal gesagt, ich meine, dass sie die Sonne hier im Haus war? Sei’s drum. Ich liebe sie, und ichvermisse sie, und genau deshalb fällt es mir so schwer, ins Krankenhaus zu gehen und bei ihr zu sitzen und zu sehen, wie sie regungslos daliegt und nichts um sich herum wahrnimmt, und …«
»Woher wollen Sie wissen, dass sie nichts wahrnimmt? Ich habe von Wachkomapatienten gehört, die ihre Umwelt sehr wohl wahrgenommen haben, sich nur nicht äußern konnten, obwohl sie es eigentlich wollten.«
Thomas lachte bitter auf. »Das haben uns die Ärzte auch gesagt, aber ich glaube nicht daran. Sie ist in einer andern Welt, zu der wir keinen Zutritt haben. Ich habe mich nie für Religion interessiert, aber seit dem Unfall frage ich mich immer wieder nach dem Sinn des Lebens. Gibt es überhaupt einen, oder besteht er lediglich darin, geboren zu werden und eines Tages zu Staub zu zerfallen?«
»Sie sind noch so jung und stellen sich solche Fragen?«, sagte Brandt. »Ich bin seit vielen Jahren bei der Polizei und habe schreckliche Dinge gesehen und erlebt, doch ich finde das Leben immer noch schön und lebenswert.«
»Wie schön für Sie. Aber war Ihr Vater auch ein unberechenbarer Säufer und Diktator? Hat er Ihrer Mutter das Haushaltsgeld auch auf Heller und Pfennig zugeteilt, und wenn sie nicht damit über die Runden kam, hat’s dann eine Tracht Prügel gesetzt? Oder haben Sie eine Schwester, die der netteste und liebenswürdigste Mensch ist, den Sie kennen, und die von Ihrem Vater verprügelt wurde, wenn sie nicht sofort und bedingungslos gespurt hat? Von all den andern Dingen ganz zu schweigen …«
»Moment«, wurde Thomas von Brandt schnell unterbrochen, der ahnte, wovon Thomas sprach, als er ebendiesevage Andeutung machte, doch er wollte es von ihm hören. »Von welchen andern Dingen sprechen Sie?«
Thomas verzog den Mund verächtlich und stieß hervor: »Denken Sie sich einfach Ihren Teil, es wird schon richtig sein. Meine Mutter und ich werden diesen Hof mit ziemlicher Sicherheit verkaufen und die Hölle, die wir hier erlebt haben, hinter uns lassen …«
»Von was für einer Hölle sprechen Sie?«
»Ist das nicht egal?«, fragte er schulterzuckend zurück.
»Denk ich nicht. Allerdings definiert jeder Mensch Hölle anders. Aber lassen Sie mich so fragen – hat Ihr Vater sich an irgendeinem von Ihnen vergangen, Ihrer Schwester zum Beispiel?«
Thomas lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ah, in die Richtung denken Sie. Nee, das hätte ich mit Sicherheit gewusst, und glauben Sie, dann hätte mein alter Herr nicht eine Minute länger gelebt, dann hätte ich ihn umgebracht. Also noch mal, nein, er hat sich nicht an ihr vergangen, obwohl sie wirklich ausgesprochen hübsch ist. Hier«, sagte er und nahm das Foto vom Schrank, das Brandt schon beim ersten Besuch in der Hand gehalten hatte, und reichte es Brandt, der so tat,
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