Schrei der Nachtigall
einem unerträglichen Menschen geworden ist. Was glauben Sie, wie oft ich mit demGedanken gespielt habe, alles hinzuwerfen und abzuhauen.« Sie nestelte mit den Fingern an einem Taschentuch und schüttelte den Kopf. »Aber da waren die Kinder, und wissen Sie, mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. An die Tage, an denen er nicht mit einem spricht, oder wenn er abends einfach abhaut und keiner weiß, wo er hinfährt, oder wenn er betrunken nach Hause kommt und mit seinem Gebrüll alle aufweckt, oder wenn er sturzbesoffen in der Scheune liegt.« Sie machte eine Pause, stand auf und fragte: »Möchten Sie auch etwas zu trinken? Ich habe aber nur Wasser oder Saft, wir trinken nämlich keinen Alkohol.«
»Vielen Dank, ich nehme gerne ein Glas Wasser.«
»Es wird ein Gewitter geben«, sagte sie, während sie einschenkte.
»Sicher?«
»Die Tiere merken das lange vor uns. Sie werden unruhig.«
Brandt wollte nicht über das Wetter sprechen, auch wenn er merkte, dass Liane Wrotzeck gerne das Thema gewechselt hätte. »Um noch einmal auf Ihren Mann zurückzukommen, hat er sich auch an Ihren Kindern vergriffen?«
»Was meinen Sie mit vergriffen?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte einen ängstlichen Unterton, als würde sie fürchten, gleich mit Fragen konfrontiert zu werden, die sie unter keinen Umständen beantworten wollte.
»Hat er sie geschlagen oder …?«
»Oder was? Ja, aber nur Allegra, weil sie die einzige hier war, die ihm schon als Kind ordentlich Widerworte gegeben hat. Sie hat es in Kauf genommen, hin und wieder einegelangt zu bekommen. An Thomas hat er sich seltsamerweise nie vergriffen. Ich kann mich nur an einmal erinnern, aber da gab es auch einen triftigen Grund, und hätte Kurt es nicht getan, wäre mir ganz sicher die Hand ausgerutscht …«
»Warum hat er Ihre Tochter geschlagen?«
»Aus nichtigen Gründen«, antwortete sie ausweichend, ohne Brandt dabei anzusehen. Brandt spürte, dass dies nicht die ganze Wahrheit war, dass die Frau ihm gegenüber etwas verschwieg. Und er hoffte, es würde nicht das sein, was er vermutete oder gar befürchtete. Doch er würde jetzt nicht weiter in sie eindringen. Irgendwann, dachte er, wird sich die Zeit ergeben, wo ich es erfahre.
»Und die Zwistigkeiten zwischen Ihrem Mann und Thomas?«
»Die beiden waren zerstritten, seit Thomas ihm klipp und klar erklärte, dass er den Hof nicht übernehmen werde. Und das war so vor drei, vier Jahren …«
»Vor vier Jahren, Mama«, sagte Thomas, der wie ein Geist aus dem Nichts aufgetaucht im Wohnzimmer stand.
»Hast du gelauscht?«, fragte sie.
»Nur ein bisschen. Herr Kommissar, wenn Sie etwas über mich wissen wollen, warum fragen Sie mich dann nicht selbst? Und wie ich annehme, steht Ihre Mordtheorie noch, oder?«
»Sie ist zumindest noch nicht ganz vom Tisch. Ja, Frau Wrotzeck, vielen Dank für Ihre Offenheit (auch wenn es seiner Meinung nach noch vieles gab, das zu erfahren ihm wichtig erschien), ich würde mich dann gerne mit Ihrem Sohn unterhalten. Können wir das hier tun?«
»Ich habe sowieso noch einiges zu erledigen«, sagte sie, erhob sich und verließ das Zimmer. Thomas schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich dagegen, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben.
»Also, um es kurz zu machen, ich habe meinen Vater gehasst, aber ich habe ihn nicht umgebracht, obwohl es mir manchmal gewaltig in den Fingern gejuckt hat.« Er hob die Augenbrauen und sah Brandt herausfordernd an.
»Und warum hätten Sie ihn gerne umgebracht?«
»Nächste Frage.«
»Warum beantworten Sie mir die nicht? Haben Sie Angst, etwas zu sagen, was ich nicht hören sollte?«
»Vielleicht. Aber gut, es war immer dann, wenn er ausgerastet ist. Reicht Ihnen das?«
»Wenn er wem gegenüber ausgerastet ist?«
»Meiner Mutter und meiner Schwester gegenüber. Er hat sie behandelt wie den letzten Dreck. Mein Vater hat sein Vieh besser behandelt als seine Familie. Selbst den Angestellten gegenüber war er freundlicher, was man eben so als freundlich bezeichnen kann. Aber ich betone es noch einmal – weder meine Mutter noch ich haben etwas mit dem Tod des Alten zu tun. Wie wollen Sie überhaupt rauskriegen, ob es ein Unfall war oder nicht? Wollen Sie ihn etwa ausbuddeln lassen?«, fragte er mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme.
»Genau das werden wir tun. Wir …« Er wollte noch etwas hinzufügen, als sein Handy klingelte. Er nahm es aus der Hemdtasche und meldete sich.
»Ja?«
»Klein, hier. Nur kurz zu Ihrer
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