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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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jeden Tag zu ihr kamen.
    Dr. Bakakis lächelte, streichelte Allegra über die Wange und antwortete: »Jeden Tag kommt ein Mann für zwei Stunden und sitzt an ihrem Bett. Jeden Tag. Ihr Vater war nur drei- oder viermal hier, ihre Mutter und ihr Bruder kommen zwei- oder dreimal in der Woche.Sonst kriegt sie keinen Besuch. Sie sind einer der ganz wenigen.«
    »Was für ein Mann?«, fragte Brandt mit gerunzelter Stirn.
    »Er ist Italiener und kommt außer mittwochs immer zwischen achtzehn und zwanzig Uhr. Nur mittwochs ist er schon um drei da.«
    »Haben Sie seinen Namen?«
    »Matteo Caffarelli. Ein ausgesprochen liebenswürdiger Mensch. Wir alle hier auf der Station kennen ihn.«
    »Und warum kommt er jeden Tag? Ist das nicht ungewöhnlich, dass ein Fremder sich jeden Tag an das Bett eines Mädchens setzt und …«
    »Er ist ganz bestimmt kein Fremder. Herr Caffarelli leitet einen Chor, in dem Allegra gesungen hat. Mittlerweile sind wir alle hier überzeugt, dass, wenn überhaupt einer Allegra ins Leben zurückführen kann, er es sein wird.« Dr. Bakakis’ Augen bekamen einen seltsamen Glanz, als sie fortfuhr: »Sie müssten ihn sehen, wie liebevoll er sich um Allegra kümmert. Er hat ihr schon ganze Bücher vorgelesen, erzählt ihr Geschichten oder singt ihr etwas vor, meist auf Italienisch. Und keiner von uns hat ihn jemals unfreundlich erlebt. Es gibt eben doch noch außergewöhnliche Menschen. Und er hat sich auch nicht von seinen Besuchen abbringen lassen, als Herr Wrotzeck ihn einmal hier auf dem Flur angeschrien hat und ihn gefragt hat, was er überhaupt bei Allegra wolle, das gehe ihn doch alles gar nichts an, das sei eine Familienangelegenheit. Und wissen Sie, wie Herr Caffarelli reagiert hat? Er hat Herrn Wrotzeck aussprechen lassen und dann gesagt, dass er möchte,dass Allegra so bald wie möglich wieder aufwacht, denn er brauche sie in seinem Chor.«
    »Und was hat Herr Wrotzeck darauf erwidert?«
    »Er ist abgezogen, weil er keine Argumente gegen Herrn Caffarelli hatte.«
    »War er vorhin hier? Ein eher kleiner schmächtiger Mann in einem hellen Anzug?«, fragte Brandt.
    »Ja«, antwortete Dr. Bakakis verwundert. »Kennen Sie ihn etwa?«
    »Nein, da kam nur vorhin jemand auf den Hof der Wrotzecks, ein südländischer Typ. Mit dem Fahrrad.«
    »Herr Caffarelli kommt bei schönem Wetter immer mit dem Fahrrad. Vielleicht hat er kein Auto, oder er nimmt bei schlechtem Wetter den Bus. Außerdem ist es auch nicht besonders weit von unserer Klinik bis nach Bruchköbel.« Sie machte ein entschuldigendes Gesicht und sagte dann: »Ich würde Ihnen gerne noch weiter Rede und Antwort stehen, aber ich habe noch zu tun. Sie können natürlich so lange hier bleiben, wie Sie möchten.«
    »Nein, ich muss auch los. Ich wollte eigentlich nur mal kurz reinschauen. Es ist schon traurig, wie so ein Unfall ein Leben völlig verändern kann.«
    »Nicht nur das von Allegra«, erwiderte Dr. Bakakis, »sondern vor allem das der Angehörigen. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sie wieder aufwacht. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.« Brandt stand auf. Die Ärztin warf einen langen Blick auf den Monitor und sagte: »Sie merkt, dass jemand anders im Zimmer ist. Hier, schauen Sie, ihr Herzschlag hat sich ab dem Moment beschleunigt, in dem Sie aufgestanden sind, als wäre sieaufgeregt. Warten Sie bitte noch. Setzen Sie sich noch einmal hin und nehmen Sie ihre Hand. Halten Sie sie einfach so, als wäre Allegra Ihre Tochter.«
    Brandt folgte der Bitte und nahm die Hand. »Und?«, fragte er.
    »Sie hat sich wieder beruhigt. Stehen Sie bitte auf«, sagte die Ärztin, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. Brandt erhob sich erneut. Dr. Bakakis schüttelte den Kopf. »Wieder dieser beschleunigte Herzschlag. Das sind genau die Reaktionen, von denen ich gesprochen habe und die uns Hoffnung machen. Aber so stark hat sie bisher nie reagiert, außer bei Herrn Caffarelli und einmal bei ihrer Mutter und ihrem Bruder.«
    »Hat Allegra Angst, oder was zeigt das da auf dem Monitor?«
    »Nein, sie hat ganz sicher keine Angst, denn dann hätte sich ihr Herzschlag nicht beruhigt, als Sie ihre Hand genommen haben. Ich nehme an, sie ist aufgeregt und freut sich, aber … Ich weiß es einfach nicht, wir müssen sie in den folgenden Tagen sehr intensiv beobachten. Vielleicht finden Sie ja mal Zeit, wieder vorbeizuschauen. Allegra würde sich bestimmt freuen.«
    »Ich werde es versuchen. Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Brandt und

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