Schrei der Nachtigall
wahrnehmen, obwohl das eigentlich eher ausgeschlossen ist.«
»Wie stehen ihre Chancen, dass sie wieder aufwacht?«
»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, da müssten Sieschon einen unserer Ärzte fragen. Doch je länger ein Patient in diesem Zustand verharrt, desto unwahrscheinlicher wird es, das ist leider eine traurige Erfahrung. Aber gehen Sie ruhig rein, ich denke, sie freut sich über jeden Besuch«, sagte sie mit einem beinahe liebevollen Ton in der Stimme.
»Ich dachte, sie merkt nicht, wenn jemand bei ihr ist«, entgegnete Brandt.
»Sie ist eine Ausnahme. Ihre Vitalfunktionen werden manchmal lebhafter, sobald jemand ins Zimmer tritt. Aber wenn Sie mehr wissen möchten, hole ich unsere diensthabende Ärztin. Sie kann Ihnen mit Sicherheit bessere Auskünfte geben.«
»Das wäre sehr nett«, sagte Brandt.
Er schaute sich im Gang um und warf einen Blick in Allegras Zimmer. Die gerufene Ärztin, die Brandt auf Mitte bis Ende dreißig schätzte, kam mit schnellen Schritten auf ihn zu und begrüßte ihn. Auf ihrem Namensschild stand »Dr. M. Bakakis«. Sie hatte einen griechischen Namen und sah auch aus wie eine Griechin, halblanges schwarzes Haar, dunkle, ihn neugierig und ein wenig kritisch musternde Augen und diese typische Nase, die er schon bei vielen griechischen Frauen gesehen hatte.
»Dr. Bakakis«, sagte sie ebenso freundlich wie die Schwester und reichte ihm die Hand. »Ich habe gehört, dass Sie von der Polizei sind. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Genau genommen komme ich von der Kripo Offenbach. Ich habe in Bruchköbel einen Fall zu bearbeiten. Deshalb würde ich gerne nach Frau Wrotzeck schauen.«
»Bitte, gehen wir doch hinein.« Sie lehnte sich gegen die Wand. »Setzen Sie sich ruhig, Sie stören Allegra nicht. Darf ich fragen, um was für einen Fall es sich handelt, oder fällt das unter Ihre Schweigepflicht?«
»Es geht um den Tod ihres Vaters. Da gibt es ein paar Ungereimtheiten, das ist alles. Ich habe vorhin von ihrer Familie erfahren, dass sie im April einen schweren Autounfall hatte und seitdem bei Ihnen liegt. Und ich dachte mir, nach ihr zu sehen, könnte nicht schaden.« Brandt nahm auf dem Stuhl neben Allegras Bett Platz und betrachtete die junge Frau. Sie hatte die Augen geöffnet, als würde sie regungslos an die Decke starren. Über eine Sonde wurde sie künstlich ernährt, ein Monitor zeichnete ihre Vitalfunktionen auf.
»Allegra ist momentan die einzige Wachkomapatientin bei uns. Sollte jedoch innerhalb der kommenden vier bis sechs Monate nicht eine entscheidende Wende eintreten, werden wir sie in ein Pflegeheim verlegen müssen.«
»Und was bedeutet das konkret?«
»Eine entscheidende Wende? Nun, dass sie zum Beispiel erste Regungen zeigt, wie etwa selbständig die Zehen oder Finger zu bewegen oder im positivsten Fall direkt auf äußere Reize oder Ansprache zu reagieren. Dann würden wir sie natürlich noch weiter hier behalten.«
»Und wie stehen die Chancen Ihrer Meinung nach?«
Dr. Bakakis kam ans Bett, nahm Allegras rechten Fuß und fuhr mit einem Stift über die Sohle. Ein deutlich sichtbares Zucken der Zehen war die Folge.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte die Ärztin.
»Was?« Brandt war unkonzentriert, die Hitze desTages, die anstrengenden Befragungen hatten Spuren hinterlassen.
»Schauen Sie genau hin, wenn ich mit dem Stift über die Fußsohle fahre. Jetzt. Haben Sie’s gesehen?«
»Sie meinen die Zehen? Und was bedeutet das?«
»Man sollte jetzt nicht gleich in Euphorie verfallen, aber es zeigt doch, dass Allegra sehr wohl reagiert, denn es ist nicht nur der rechte Fuß, sondern auch der linke und die Hände. Und das macht uns Hoffnung. Seit vergangener Woche können wir insgesamt eine markante Veränderung ihres Zustands erkennen. So haben sich etwa ihre Hirnströme im positiven Sinn verändert. Und das ist eines der auffälligsten Zeichen. Außerdem zeigt das Computertomogramm keinerlei Hirnschädigungen. Also werden wir die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Ich habe ein Foto von ihr gesehen, sie ist bildhübsch.«
»Ja, das ist sie. Jetzt schaut sie natürlich nicht so vorteilhaft aus, aber sollte sie aufwachen und allmählich wieder ins normale Leben zurückfinden, was allerdings ein langer Prozess werden kann, wird sie auch wieder aussehen wie vor dem Unfall.«
»Bekommt sie viel Besuch?«, fragte Brandt, der selbst nicht wusste, warum er diese Frage stellte, hatte er doch von Allegras Bruder und Mutter erfahren, dass sie längst nicht
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