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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Geschäft, um sich umzusehen und ein paar Worte mit Caffarelli zu wechseln, und wenn jemand sich schlecht fühlte, so genügte oft nur ein aufmunternder Satz von ihm, damit derjenige mit einem besseren Gefühl oder besser gelaunt wieder nach Hause ging.
    Caffarelli, der unmittelbar vor seiner Hochzeit dieses Geschäft gegründet hatte, nachdem sich rumgesprochen hatte, über welch außergewöhnliches Talent er verfügte, und immer mehr Leute bei ihm erschienen, die alte, aber nicht mehr laufende Uhren besaßen, setzte seine Lupe wieder auf und nahm die Zange in die Hand. Die Uhr, die er vor sich liegen hatte, war ihm vor wenigen Tagen geschickt worden, eine Uhr, nein, ein Meisterwerk, das Anfang des 19. Jahrhunderts gefertigt worden war und das er wieder zum Laufen bringen würde. Und sollte der Besitzer sich entschließen, sie zu verkaufen, so würde er ein reicher Mann werden.
    Caffarelli war ein unbestrittener Meister seines Fachs, einer der wenigen, die selbst die ältesten Uhren wieder in Gang setzen konnten. Sein Ruf hatte sich bis weit über die Grenzen Deutschlands hinweg verbreitet, obwohl er keine Werbung machte, alles geschah durch Mundpropaganda.
    Wenn er neben seiner Familie etwas liebte, dann waren es die Uhren. Und sein Chor, den er seit fast fünfzehn Jahren leitete und mit dem er schon viele außergewöhnlicheKonzerte gegeben hatte. Viele Mitglieder der ersten Stunde waren noch dabei, einige waren gegangen, weil sie nicht mehr die Zeit hatten, zweimal wöchentlich zu proben, andere wieder waren fortgezogen. Doch an jeden einzelnen von ihnen erinnerte er sich genau, er hatte jedes Gesicht vor Augen und die dazugehörige Stimme. Aber eine Stimme unter all diesen war eine ganz besondere, einmalige, unvergleichliche, und diese fehlte seit Monaten und ließ den Chor in einem viel matteren Licht erstrahlen als zuvor – die Stimme von Allegra Wrotzeck. Und Caffarelli würde alles dafür tun, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Und er glaubte ganz fest daran, dass das Wunder nicht mehr lange auf sich warten ließ, denn Caffarelli wäre nicht Caffarelli gewesen, würde er auch nur eine Sekunde daran zweifeln.

Donnerstag, 10.30 Uhr
    Brandt parkte vor der Kirche und fand auf Anhieb das Haus, in dem Pfarrer Lehnert wohnte. Er klingelte, und Lehnert kam an die Tür. Er wirkte nicht sonderlich erfreut, als er Brandt hereinbat. Sie begaben sich in das Arbeitszimmer, und Lehnert machte die Tür hinter sich zu. Er war groß, Brandt schätzte ihn auf einsneunzig, hager, mit einer Hakennase und riesigen Ohren, die irgendwie an die von Genscher erinnerten. Sein volles Haar war schlohweiß, der Mund ein millimeterbreiter Strich, die Haut pergamentartig und weiß. Er deutete auf einen Stuhl, während er selbst hinter dem SchreibtischPlatz nahm, der überfüllt war mit Büchern und Papier. Im Aschenbecher glimmte eine halb gerauchte Zigarette vor sich hin. Lehnert nahm noch zwei Züge und drückte sie aus.
    »Was kann ich für Sie tun? Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen könnte«, begann er das Gespräch mit emotionsloser Stimme, ohne dass Brandt auch nur eine Frage gestellt hatte. Seine Augen hatten einen leeren, dumpfen Ausdruck, die Mundwinkel waren leicht nach unten gebogen.
    »Nun, vielleicht beantworten Sie mir ein paar Fragen, natürlich nur so weit, wie es Ihre Schweigepflicht zulässt, und Sie sind mich schneller wieder los, als Sie denken«, sagte Brandt geradeheraus, der schon gestern nacht den Eindruck hatte, dass sie nicht auf einer Wellenlänge funkten.
    »Bitte, ich stehe zu Ihrer Verfügung«, erwiderte Lehnert mit unbeweglicher Miene und zündete sich eine weitere Zigarette an.
    »Erst einmal möchte ich mich für die Aktion gestern entschuldigen, aber es ließ sich leider nicht vermeiden. Es deutet nun mal alles darauf hin, dass Herr Wrotzeck keines natürlichen Todes gestorben ist.«
    »Auch ein Unfall ist kein natürlicher Tod«, sagte Lehnert lapidar, nahm einen Zug und blies den Rauch aus der Nase aus.
    »Leider bestätigen erste Erkenntnisse unserer Rechtsmediziner, dass es sich vermutlich nicht um einen Unfall handelte. So viel dazu. Wie gut kannten Sie den Verstorbenen?«
    »Wie gut kennt man jemanden, der vielleicht einmal im Jahr die Kirche besucht? Aber selbst die Mitglieder meiner Gemeinde, die regelmäßig kommen, kenne ich zum Teil kaum. Sie besuchen den Gottesdienst und gehen wieder.«
    »Trotzdem, Bruchköbel ist nicht Offenbach oder Hanau. Hier kennt doch so ziemlich jeder

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