Schrei der Nachtigall
es Sie dann, ob er bei einem Unfall oder durch Mithilfe anderer ums Leben gekommen ist? Vielleicht hat er es nicht anders verdient.« Seltsam, dachte Brandt, die Anruferin hatte doch auch gesagt, dass Wrotzeck es nicht anders verdient habe.
»Dürfen Sie so etwas überhaupt sagen?« Brandt konnte sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen, was Lehnert jedoch nicht sah, weil er zur Seite blickte, wie er überhaupt fast die ganze Zeit nicht imstande war, ihn anzuschauen. »Meinen Sie denn, dass er es verdient hat?«
»Herr Brandt, das ist nicht fair. Ja, ich habe mit Wrotzeck des öfteren gesprochen, aber ich werde Ihnen nicht sagen, was er mir anvertraut hat.«
»Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass er sich zu Ihnen in den Beichtstuhl gesetzt hat, um seine Sünden zu beichten. Hat er?«
»Jeder Katholik hat das Recht und eigentlich auch die Pflicht, regelmäßig die Beichte abzulegen und vor Gott seine Sünden zu bekennen. Wie gesagt, die Gottesdienste hat er nur sehr selten besucht, dennoch war er ein gläubiger Mensch, der den Unterschied zwischen Recht und Unrecht sehr wohl kannte und über seine … Probleme … mit mir sprach.«
»Mit Problemen meinen Sie doch Sünden, oder? Kannes sein, dass Sie mehr aus seinem Leben wissen als seine Familie?«
»Schon möglich«, war die knappe Antwort, knapp und emotionslos wie fast alles, was Lehnert bisher von sich gegeben hatte.
»Und Sie haben ihm die Absolution erteilt, wie es Ihre Pflicht ist …«
»Herr Brandt, Sie kennen offenbar die Regeln nicht. Die Absolution wird nicht in jedem Fall erteilt …«
»Tja, aber über das, was Wrotzeck Ihnen anvertraut hat, werden Sie natürlich schweigen, wie ich vermute.«
»Mein Gelübde gebietet es mir.«
»Haben Sie ihm die Absolution für seine … Sünden … erteilt oder nicht?«, fragte Brandt, wobei er das Wort Sünden besonders langsam und betont aussprach.
»Kein Kommentar.«
»Also gut, dann reden wir über ein paar andere Dinge, wenn es Ihnen recht ist. Wie gut kennen Sie den Rest der Familie? Ich meine, Thomas hat Ihnen ja gestern gleich mitgeteilt, dass wir eine Exhumierung vornehmen würden, was für mich bedeutet …«
»Ich kenne die Familie ziemlich gut, vor allem Frau Wrotzeck und ihre Tochter Allegra. Sie sind regelmäßig in die Kirche gekommen, bis das mit Allegra passiert ist.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Aber seitdem habe ich Frau Wrotzeck kaum noch begrüßen dürfen. Sie leidet sehr unter diesem tragischen Ereignis. Ich würde sagen, sie ist eine gebrochene Frau.«
»Woher wollen Sie das wissen, wenn sie den Gottesdienst nicht mehr besucht?«
»Ich habe unmittelbar nach dem schrecklichen Ereignis mehrfach mit ihr gesprochen und versucht, ihr Mut zu machen, aber sie hat den Glauben an Gott verloren. Sie liebt Allegra über alles, was jedoch nicht heißen soll, dass sie Thomas nicht liebt.«
»Wie lange sind Sie schon als Pfarrer hier tätig?«
»Seit genau sechsundzwanzig Jahren. Ich war noch jung, als ich die Gemeinde übernommen habe, und in fünf oder sechs Jahren wird es auch einen Nachfolger geben.« Lehnert wollte gerade noch etwas hinzufügen, als Brandts Handy klingelte. Andrea Sievers.
»Nur kurz zu deiner Information – wir haben das vorläufige amtliche Endergebnis«, sagte sie trocken, und doch meinte er sie schmunzeln zu sehen. »Wrotzeck ist zwar durch den Sturz gestorben, aber irgendwer hat nachgeholfen, das konnten wir definitiv aufgrund der am Fundort gemachten Fotos nachweisen. Der Schlag auf den Kopf hat ihn aller Wahrscheinlichkeit nach das Gleichgewicht verlieren lassen, und dann … Wie gesagt, wir sind noch nicht ganz fertig, doch was jetzt kommt, ist nur noch reine Routine. Er hätte aber vermutlich sowieso nur noch fünf oder zehn Jahre gehabt, denn seine Leber war schon etwas ramponiert. Er hatte eine Zirrhose im Anfangsstadium, von der er wahrscheinlich noch gar nichts wusste.«
»Danke«, erwiderte Brandt nur und steckte das Handy in die Jackentasche zurück. Er sah Lehnert an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: »Das war die Rechtsmedizin. Es ist erwiesen, dass Herr Wrotzeck nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Die Frage ist: Wer hat nachgeholfen? Haben Sie eine Theorie?«
»Was würde Ihnen eine Theorie bringen? Wrotzeck hatte sich im Lauf der Jahre unzählige Feinde geschaffen, das werden Ihnen viele hier im Ort bestätigen können. Und genau deshalb kann ich Ihre Frage nicht beantworten.«
»Dann
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