Schrei der Nachtigall
vor allem Sorgen um Allegra machen. Sie ist eine ganz außergewöhnliche junge Dame, und ich möchte, dass sie wieder in ein normales Leben zurückfindet. Sie sollten sie besuchen, dann wüssten Sie, warum ich das tue.«
»Ich war gestern abend bei ihr.«
»Und wie war Ihr Eindruck?«
»Ich hatte nicht sehr viel Zeit, deshalb kann ich das nicht sagen.«
Matteo Caffarelli lächelte wieder, als er entgegnete: »Ja, ja, die Zeit. Wir haben immer weniger davon, sie scheint wegzufliegen, doch eigentlich rennen wir vor ihr weg. Aber ich will Sie nicht langweilen, Sie haben bestimmt noch Fragen, und ich muss auch gleich das Geschäft öffnen.«
»Ich habe auch gleich einen Termin«, sagte Brandt, der sich die Unterhaltung mit Caffarelli ganz anders vorgestellt hatte, der nicht im Traum daran gedacht hätte, dass dieser kleine Mann ihn so aus der Fassung bringen würde, denn viele der Fragen, die er ihm stellen wollte, hatte er schon wieder vergessen. »Können wir uns ein andermal unterhalten?«
»Sie sind herzlich willkommen.«
»Passt es Ihnen heute abend?«
»Wenn Ihnen neun Uhr nicht zu spät ist, gerne. Ich komme erst um halb neun aus der Klinik zurück und will danach noch das Abendessen zu mir nehmen.«
»Dann bis heute abend um neun. Und grüßen Sie Allegra von mir.«
Matteo Caffarelli lächelte wieder geheimnisvoll und sagte: »Ich werde es ihr ausrichten. Sie wird wieder aufwachen, das weiß ich.«
»Wiedersehen und einen schönen Tag.«
»Ihnen auch.«
Caffarelli schloss die Ladentür auf und ließ Brandt hinaus. Dieser ging zu seinem Auto, und mit einem Mal fielen ihm die Fragen ein, die er nicht gestellt hatte, weil er einfach zu verwirrt gewesen war. Was zum Teufel hat mich so aus der Fassung gebracht, dass ich nicht mal die einfachsten Fragen zu stellen in der Lage war? Zum Beispiel, warum Caffarelli mich wirklich erwartet hat. Wie kann er mich erwarten, wenn er doch nur ein Uhrmacher ist, der einen Kirchenchor leitet und Allegra täglich im Krankenhaus besucht? Und welche Rolle spielt er in diesem ganzen Stück, das immer undurchsichtiger wird? Und liegt seine Fürsorge um Allegra wirklich nur darin begründet, dass sie in seinem Chor fehlt?
Fragen über Fragen, auf die Brandt (noch) keine Antworten hatte, doch heute abend würde er diese Fragen stellen, und er war gespannt, wie Caffarelli darauf reagieren würde. Sein nächster Weg führte ihn zu Pfarrer Lehnert, der nur wenige Straßen weiter unmittelbar neben der Kirche wohnte.
Donnerstag, 10.00 Uhr
Matteo Caffarelli begab sich wieder in das Hinterzimmer, um eine Uhr zu reparieren. Er setzte die Lupe auf und nahm eine kleine Zange in die Hand. Seine Frau Anna kam die Treppe herab und stellte sich neben ihn. »Was wollte der Polizist von dir?«
»Er hat mich gefragt, warum ich Allegra so oft in der Klinik besuche. Er wird heute abend noch einmal kommen, wir hatten nicht genügend Zeit, um über alles zu sprechen«, antwortete Matteo, ohne aufzusehen.
»Was alles?«
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, er will wissen, wie gut ich Allegra kenne oder ihren Vater. Er wird es mir schon sagen, Polizisten sind nun mal so.«
»Aber was will er von dir?«, fragte sie, den Kopf leicht zur Seite geneigt, ihren Mann prüfend ansehend.
»Die Polizei glaubt, dass Herr Wrotzeck nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, sondern ermordet wurde«, sagte er wie selbstverständlich und schaute auf, legte das Werkzeug auf den Tisch und nahm die Lupe ab. Er erhob sich, sah seiner Frau tief in die Augen, fasste sie sanft bei den Schultern und fuhr fort: »Ich weiß nicht, warum sie glauben, dass er ermordet wurde, ich weiß es wirklich nicht.«
»Wrotzeck soll ermordet worden sein?«, fragte Anna Caffarelli mit ungläubigem Blick. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Doch, Liane hat es mir gestern gesagt. Irgend jemand hat bei der Polizei angerufen und so etwas behauptet.«
»Ich verstehe nicht, was ausgerechnet du damit zu tun haben sollst.«
»Wie kommst du nur darauf, dass ich etwas damit zu tun haben soll, Anna? Wahrscheinlich befragt die Polizei jeden, der Herrn Wrotzeck kannte. Und das sind sehr viele Menschen. Außerdem ist noch gar nicht erwiesen, dass er ermordet wurde. Ich bin sicher, dass sich das alles aufklären wird. Du weißt doch, dass er viel getrunken hat und …«
»Trotzdem finde ich das seltsam«, sagte sie und sah ihren Mann besorgt an.
»Was ist daran seltsam? Ich finde es ganz normal. Wenn er umgebracht wurde, dann ist es
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