Schrei der Nachtigall
jeden. Ist es nicht so?«
»Mag sein, es kommt nur darauf an, was Sie unter kennen verstehen.«
»Was für ein Mensch war Herr Wrotzeck?«
»Wollen Sie wissen, wie ich ihn gesehen habe oder wie er mit seinen Mitmenschen ausgekommen ist?«
»Beides, wenn es nicht zu viel verlangt ist«, entgegnete Brandt so freundlich wie möglich, auch wenn es ihm schwerfiel.
Weiterhin ohne eine Miene zu verziehen sagte Lehnert: »Also gut. Wrotzeck war ein erfolgreicher Landwirt, aber er war nicht angesehen. Und beliebt war er schon gar nicht. Die Gründe dafür sind Ihnen bestimmt hinlänglich bekannt.«
»Haben Sie je mit ihm ein persönliches Gespräch geführt?«
Lehnert beugte sich nach vorn, um die Zigarette auszudrücken. »Ja, hab ich. Sogar mehrfach. Das mag Sie verwundern, aber Wrotzeck hat mit mir gesprochen und sich mir anvertraut. Seltsam, nicht?«
»Inwiefern hat er sich Ihnen anvertraut?«
»Tut mir leid, aber das kann und darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Hatte er Probleme?«, fragte Brandt, der sich an CaffarellisWorte erinnerte, der gesagt hatte, Wrotzeck sei ein Mann voller Probleme gewesen.
»Welcher Mensch hat keine? Der eine hat größere, der andere kleinere. Aber für den, der kleine Probleme hat, können die schon zu einer großen Prüfung werden und ihn verzweifeln lassen.«
»Schön, doch kommen wir zu Wrotzeck zurück. Hat er sich mit irgendwelchen spezifischen Problemen an Sie gewandt? Zum Beispiel, dass er seine Trunksucht nicht in den Griff bekommen hat oder weil er ständig zu irgendwelchen Huren gerannt ist?«
Lehnert hob die Hand, um Brandts Redefluss zu unterbrechen, doch dieser ließ sich nicht beirren.
»Ich bin noch nicht fertig, Herr Lehnert, oder haben Sie es lieber, wenn ich Sie mit Pfarrer anrede?«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Lehnert mit gedämpfter Stimme.
»Oder hat er Ihnen erzählt, wie er seine Familie behandelt hat? Dass er seine Frau und seine Kinder mit eiserner Hand – oder sollte ich besser sagen, mit eiserner Faust – regiert hat? Oder dass er seine Geschäftspartner übers Ohr gehauen hat, und das nicht zu wenig? Oder dass er mit seinen Nachbarn so überhaupt nicht zurechtkam, speziell mit Herrn Köhler? Hat er über diese Probleme mit Ihnen gesprochen? Hören Sie, ich will Sie nicht bedrängen oder unter Druck setzen, ich möchte lediglich einen ungeklärten Todesfall lösen, und Sie könnten mir dabei unter Umständen sehr helfen. Ich werde es auch ohne Ihre Hilfe schaffen, aber mit Ihrer Hilfe würde es bestimmt schneller gehen.«
Brandt beobachtete Lehnert genau, der mit fahrigen Fingern eine weitere Zigarette aus der Schachtel zog, sie anzündete und nervös inhalierte. Schweiß hatte sich bei dem Fragenbombardement auf seiner Stirn gebildet. Er veränderte immer wieder seine Haltung in dem Sessel, obwohl er versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Die offenbar gespielte Unnahbarkeit, das Sichverstecken hinter der Schweigepflicht oder dem Beichtgeheimnis schwanden zusehends. Und Brandt war sicher, dass Lehnert reden würde, wenn nicht gleich, dann doch irgendwann in den kommenden Tagen, denn er würde ihn nicht in Ruhe lassen, auch wenn ein Pfarrer selbst vor dem Gesetz unantastbar war, es sei denn, er hatte sich einer schweren Straftat schuldig gemacht. Doch auch dann hing es oft davon ab, inwieweit die Kirchenoberen ihre schützenden Hände über einen der ihren hielten.
»Herr Wrotzeck war ein schwieriger und nicht sehr umgänglicher Mensch. Und so jemand hat immer persönliche Probleme, meist sogar mehr als die andern. Und er hatte definitiv sehr viele Probleme. Aber auch dies müsste Ihnen schon bekannt sein.«
Er will seine Selbstsicherheit wiedererlangen, indem er sich in leeren Phrasen ergeht, aber so leicht wirst du mich nicht los, dachte Brandt.
»Ich weiß nur, dass er seine Familie mit harter Hand geführt hat, ebenso seinen Hof, und dass er mit den Nachbarn nicht zurechtkam. Speziell mit Herrn Köhler gab es seit Jahren heftigen Streit.«
»Das ist korrekt, aber allgemein bekannt. Außerdem habe ich das selbst eben erwähnt. Sagen Sie mir einfach,was für ein Mensch Wrotzeck Ihrer Einschätzung nach war. Oder haben Sie Angst, Gott könnte Ihnen den Eintritt ins Himmelreich verwehren, wenn Sie mir helfen?«
»Reden Sie nicht so blasphemisch! Es geht um ein Gelübde, das ich abgelegt habe, und ich beabsichtige nicht, es zu brechen. Außerdem, wenn Wrotzeck so ein übler Mensch war, wie Sie behaupten, warum interessiert
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