Schrei der Nachtigall
ihre Aufgabe, den Mörder zu finden.«
»Ja, du hast wahrscheinlich recht. Ich geh wieder nach oben, das Mittagessen vorbereiten. Ich liebe dich.«
»Ti amo, bellezza. Und mach dir nicht so viele Gedanken, es wird alles gut werden.«
Anna Caffarelli drehte sich um und begab sich in den ersten Stock. Eine feine, umgängliche Frau, seit nunmehr achtzehn Jahren mit Matteo verheiratet, den sie in der Kirche gesehen und sofort liebengelernt hatte. Eine Liebe, die wie ein Blitz eingeschlagen war. Sie waren, wie sie immer sagte, wie zwei Brötchenhälften, die perfekt zueinander passten, obwohl sie fast zehn Zentimeter größer war als Matteo, doch das machte weder ihm noch ihr etwas aus. Ihre Liebe hatte nichts mit Körpergröße zu tun, auch wenn die Leute sich bisweilen auf der Straße nach diesem ungleichen Paar umdrehten. Sie lächelten nur darüber.
Matteo Caffarelli stammte aus Balmuccia, einem Dorfim nördlichen Piemont, war vierundvierzig Jahre alt und das älteste von vier Kindern. Ganz im Gegensatz zu jetzt hatte es in seiner Jugend eine Zeit gegeben, in der er mit sich und der Welt, vor allem aber mit seiner Mutter nicht im reinen war. Denn Caffarelli war unehelich geboren, und manche im Ort hatten ihn hinter vorgehaltener Hand als Bastard bezeichnet, was ihm schwer zu schaffen machte. Selbst auf sein jahrelanges Drängen hin hatte seine Mutter ihm nicht verraten, wer sein leiblicher Vater war, aber er wollte ihn unbedingt finden. Er mochte seinen Stiefvater, obwohl dieser ein wortkarger Bauer war, aber er empfand es als Schande und Makel, das einzige Kind in der Familie zu sein, das »keinen« Vater hatte. Und es war mehr ein Zufall, als er alte Briefe seiner Mutter entdeckte, die sie auf dem Dachboden versteckt hatte, in denen der Name seines Vaters und der Ort erwähnt wurden, wo er lebte.
Matteo Caffarelli, der lange in heftigem Streit und Unfrieden mit seiner Mutter gelebt hatte, begab sich in diesen Ort und fragte nach Matteo Tozzi, woraufhin ihm gesagt wurde, er sei Pfarrer in der hiesigen Gemeinde. Caffarelli sprach mit ihm und merkte, dass dieser in ihm seinen Sohn erkannte, aber keiner von beiden verlor ein Wort darüber. Doch er sah in seinem Vater einen Mann voller Liebe für die Menschen. Als er wieder ging, versprach er sich selbst, nicht mehr zornig auf seine Mutter zu sein und sich bei ihr für sein ungehöriges Verhalten in den letzten Jahren zu entschuldigen. Doch als er nach Hause kam, wurde er von lauter weinenden Menschen empfangen, seinem Stiefvater, den Geschwistern und einigen andern aus dem Dorf. Und er erfuhr, dass seine Mutter während seiner Abwesenheiteinen Schlaganfall erlitten hatte, an dem sie wenige Tage später starb. Er hatte an ihrem Sterbebett gesessen, hatte verzweifelt versucht, mit ihr zu sprechen, doch er wusste nicht, ob sie ihn noch verstanden hatte. Er haderte mit Gott, warum er ihm nicht die Möglichkeit der Versöhnung gegeben hatte, doch er bekam keine Antwort. Aber Caffarelli schwor sich, nie wieder andern Menschen wehzutun.
Kurz nach dem Tod seiner Mutter kehrte er seinem Heimatort den Rücken und lebte seit seinem zwanzigsten Lebensjahr in Deutschland, zunächst ein Jahr in Frankfurt, wo es ihm jedoch nicht gefiel – zu viele Menschen, zu viel Hektik, zu viele Abgase. Dann verschlug es ihn nach Bruchköbel, wo er eine Zeitlang in einem italienischen Restaurant als Koch arbeitete, obwohl er dies nie gelernt hatte, doch er war mit vielen Gaben gesegnet. Allerdings bereitete ihm dieser Beruf nicht sonderlich viel Freude, denn anstatt mit Menschen zusammen zu sein, war er eingekerkert – so fühlte er sich jedenfalls – in einem Raum voller Töpfe und Pfannen. Doch wie schon in seiner Kindheit beschäftigte er sich in seiner Freizeit mit Uhren, für die er ein besonderes Händchen besaß – Uhren aller Art, Taschenuhren, Armbanduhren, Wanduhren, Standuhren.
Caffarelli war ein gläubiger Mann, ohne dabei fanatisch zu sein wie so viele, die jeden Sonntag die Kirche besuchten. Vielleicht war dieser Glaube vererbt, er wusste es nicht. Aber er pflegte das tägliche Gebet und ging auch regelmäßig zur Beichte. Und er liebte die Menschen, genau wie sein Vater, was sich auch in seinem Gesicht widerspiegelte, und wenn er durch Bruchköbel ging, dann grüßte eralle, die er kannte, mit einem freundlichen Lächeln. Und vielleicht war es diese natürliche Freundlichkeit und Höflichkeit, die ihn so beliebt gemacht hatte. Viele kamen bisweilen einfach nur so in sein
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