Schrei der Nachtigall
bitte.«
Brandt hörte sie nach ihrem Mann rufen, ein paar leise Worte wurden gewechselt, kurz darauf kam jemand die Treppe herunter, und jener Mann, den er gestern auf dem Wrotzeck-Hof gesehen hatte, öffnete die Tür.
»Guten Tag«, sagte Matteo Caffarelli freundlich lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Es geht um Herrn Wrotzeck.«
»Bitte, treten Sie doch ein. Ich habe Sie schon erwartet.«
Brandt war mehr als verblüfft über diese Worte, ließ sich das aber nicht anmerken. Und er meinte in Caffarellis Augen ein leichtes Aufblitzen zu entdecken.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Der schmächtige Mann, den Brandt auf höchstens einsfünfundsechzig schätzte, eher noch kleiner, ging vor ihm voran in ein Zimmer im Erdgeschoss, das unmittelbar an den Verkaufsbereich grenzte und von diesem nur durch einen Vorhang getrennt wurde. Auf einem Tisch lagen mehrere Uhren, daneben Werkzeug, wie es ein Feinmechaniker wie Caffarelli brauchte. »Nehmen Sie Platz«, sagte er mit angenehm warmer Stimme und diesem leicht italienischenAkzent, den auch Brandts Mutter noch immer hatte.
»Sie haben mich also erwartet. Warum?«, fragte Brandt.
»Nun, ich war gestern bei den Wrotzecks, und die haben mir von Ihrem Besuch bei ihnen erzählt. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Nein, danke. Sie sind Uhrmacher?« Blöde Frage, dachte Brandt, erstens steht es draußen auf dem Schild, und zweitens liegt hier alles voller Uhren. Aber Caffarelli machte ihn auf seltsame Weise nervös, auch wenn dieser die Ruhe und Gelassenheit in Person war. Keine hektischen Bewegungen, ein offener Blick, ein netter und dem ersten Augenschein nach sehr zugänglicher Mann von vielleicht Mitte vierzig, auch wenn er sehr jugendlich wirkte. Allein die Fältchen um die Augen ließen darauf schließen, dass er etwa in Brandts Alter war. Klein, sehr schlank, mit vollem braunem Haar, braunen Augen und schmalen Händen, die wie die eines filigranen Pianisten aussahen oder die einer schönen Frau. Caffarelli war ein besonderer Mann, das hatte Brandt sofort gespürt, doch er wollte wissen, was ihn so besonders machte.
»Ja, ich bin Uhrmacher«, antwortete Caffarelli höflich.
»Heißt das, Sie stellen auch Uhren her?«
»Nein, aber ich restauriere alte Uhren. Doch das ist bestimmt nicht der Grund Ihres Besuchs.«
»Stimmt. Es geht tatsächlich um den Tod von Herrn Wrotzeck. Und ich wäre ganz sicher auch nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich nicht erfahren hätte, dass Sie Allegratäglich in der Klinik besuchen. Das heißt für mich, dass Sie einen engeren Bezug zur Familie haben.«
Matteo Caffarelli lächelte leise, als er erwiderte: »Das kann man auslegen, wie man möchte, aber mein Bezug zur Familie besteht hauptsächlich über Allegra. Sie ist eine der besten Sängerinnen in meinem Chor. Ach was, sie ist die beste Sängerin. Und es liegt mir sehr am Herzen, dass sie so bald wie möglich wieder aufwacht. Der Chor ist ohne sie nur halb so viel wert. Und dadurch habe ich natürlich auch die Familie kennengelernt.«
»Verstehe. Was für ein Chor ist das?«
»Ein Kirchenchor, aber nicht einer, wie Sie vielleicht denken, in dem nur erhabene Kirchenlieder oder klassische Stücke gesungen werden. Wir haben auch moderne Lieder in unserem Repertoire. Die Proben sind manchmal sehr lustig und erheiternd, und es macht mir Spaß zu sehen, wenn die andern Spaß haben.«
»Und wie standen Sie zu Herrn Wrotzeck?«
»Wir kannten uns nur flüchtig. Er war ein Mann mit großen Problemen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen und habe es in seinem Gesicht gesehen. Ja, er hatte viele Probleme, und ich glaube, die meisten hatte er mit sich selbst. Aber wer hat die nicht?«
Caffarelli sah Brandt, während er sprach, an, ohne den Blick auch nur eine Sekunde abzuwenden. Brandt konnte sich nicht erinnern, irgendwann in den letzten Jahren mit jemandem gesprochen zu haben, der eine solche innere Ruhe ausstrahlte wie der schräg gegenübersitzende Mann.
»Aber warum besuchen Sie Allegra jeden Tag? Und das jeweils zwei Stunden lang?«
»Warum nicht? Ich weiß nicht, ob Sie an Gott glauben, aber Christus hat gesagt: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich empfinde es als meine Pflicht, ihr in dieser schweren Zeit beizustehen.«
»Aber jeden Tag?«, fragte Brandt.
»Ich bin der einzige, der sie jeden Tag besucht. Frau Wrotzeck und Thomas haben nicht die Kraft dazu, obwohl sie sich viele Gedanken und
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