Schrei der Nachtigall
frage ich Sie noch einmal: Hat er es Ihrer Meinung nach verdient?«
»Damit würde ich die Todesstrafe indirekt gutheißen, was ich nicht tue. Allein Gott hat das Recht zu richten, wir Menschen sind aufgefordert, einander zu vergeben. Aber ich will Ihnen entgegenkommen und sage, es war vorauszusehen, dass er eines Tages so enden würde. Irgendwann kann auch das friedfertigste Lamm zu einem Löwen werden. Nur weiß ich nicht, wer dieses Lamm ist.«
»Seine Frau?«
»Vergessen Sie Frau Wrotzeck. Sie hat es zwar nicht leicht mit ihm gehabt, aber sie wäre nie fähig gewesen, ihn umzubringen. Und auch Thomas nicht, obwohl er gerade in den letzten Jahren stark unter seinem Vater gelitten hat.«
»Hat er Ihnen das gesagt? Vielleicht auch im Beichtstuhl wie sein Vater?«, fragte Brandt sarkastisch.
»Möglich.«
Brandt überlegte, wie er seine nächste Frage formulieren könnte, und sagte: »Was wissen Sie über den Unfall von Allegra und ihrem Freund?«
»Das war eines der tragischsten Ereignisse seit langem«, antwortete Lehnert. »Es hat fast den ganzen Ort erschüttert.« Und mit einem Mal sprudelte es nur so aus ihm heraus, als hätte er endlich ein Thema gefunden, über das erfrei sprechen konnte. Doch auch jetzt war seine Stimme monoton und auf eine beinahe erschreckende Weise leer. »Johannes und Allegra waren ein außergewöhnliches Paar. Sie waren nicht wie die meisten jungen Leute heutzutage, nein, sie waren anders. Sie sind nicht mit dem Trend gegangen, nein, sie haben die Normen, die die Gesellschaft in den letzten zwei, drei Jahrzehnten aufgestellt hat, zum großen Teil ignoriert. Schauen Sie sich doch bloß diese Welt an. Sie ist moralisch am Ende, ich möchte fast behaupten, dekadent und degeneriert. Und Dekadenz war stets eine der Hauptursachen für den Untergang von Kulturen. Aber Allegra und Johannes haben dieser Dekadenz getrotzt. Sie haben nicht geredet wie so viele vor allem junge Menschen heutzutage, eine Sprache, die man kaum noch versteht, ja, es ist fast ein Sprachenwirrwarr, das für mich der Sprachenverwirrung von Babylon beinahe gleichkommt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht verstaubt in meinen Ansichten, aber ich erlebe tagtäglich die Menschen und sehe, wie ziellos sie geworden sind. Man vergnügt sich, ohne dabei noch ethische oder moralische Werte zu beachten. Ich habe in meiner Gemeinde drei Minderjährige, die schwanger sind. Die jüngste von ihnen ist zwölf, die älteste vierzehn. Und keine von den dreien weiß, wer der Vater ihres ungeborenen Kindes ist. Ich kenne etliche Paare, die sich nichts mehr zu sagen haben, und wo es nichts mehr zu sagen gibt, wird Gewalt angewandt. Die Männer wenden sich von den Frauen ab und die Frauen von den Männern. Seit einigen Jahren bemerke ich eine erschreckende Zunahme von sogenannten Singles, die sich zwar angeblich nach einemPartner sehnen, aber in Wirklichkeit ist das nur eine Worthülse, um sich selbst ein reines Gewissen zu verschaffen. Es wird gelogen und betrogen, und dann kommen jene, die vom Gewissen geplagt werden, zu mir und wollen die Absolution. Und nachdem ich sie erteilt habe, denken sie, sie könnten wieder tun und lassen, was sie wollen.«
Lehnert schaute mit leerem Blick zu Brandt, der sich fragte, warum der Pfarrer ihm Dinge erzählte, die er sowieso schon kannte, schließlich hatte er als Polizist oft genug mit Leuten zu tun, die gegen jede Norm lebten und handelten. Dennoch ließ er ihn gewähren. Wahrscheinlich will er das mal richtig loswerden, dachte er, wer weiß, wen er sonst zum Reden hat. Priester, so hatte er einmal gehört, sollen zu den einsamsten Menschen zählen. Immer ein offenes Ohr für andere haben, aber niemanden, der einem selbst zuhört. Brandt tat es leid, ihn teilweise so hart angefasst zu haben, denn im Grunde war Lehnert, den er anfangs doch falsch eingeschätzt hatte, ganz in Ordnung.
»Jetzt habe ich Sie vollgequatscht, und das wollte ich nicht. Bitte verzeihen Sie. Aber es hat am Ende auch mit Allegra und Johannes zu tun. Sie waren für mich moralisch rein, unverfälscht im Denken und Handeln, und obwohl speziell Allegra zu Hause Dinge vorgelebt bekam, die sie eigentlich am Guten im Menschen hätten zweifeln lassen müssen, scheint sie das alles nicht tangiert zu haben. Verstehen Sie, Allegra hat sich nicht darum geschert, wie ihr Vater war und dass Frau Wrotzeck … Nein, Entschuldigung … Ähm, nun, Allegra hat sich auf ihrem Weg nicht beirren lassen. Es gab für sie zwei große
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