Schrei der Nachtigall
wohnt nur ein paar Minuten zu Fuß von hier.«
»Ich hatte bereits das Vergnügen. Hat er mit seinem Chor in Ihrer Kirche geprobt?«
»Ja.«
»Das heißt, Sie kennen ihn auch schon länger?«
»Seit er vor zwanzig Jahren nach Bruchköbel gekommen ist. Ich bitte Sie jedoch, seien Sie sanft zu ihm, er ist nämlich selbst ein ausgesprochen sanfter Mensch.«
»Ich werde mich bemühen. Auf Wiedersehen. Ich finde allein hinaus.«
»Herr Brandt«, rief Lehnert und kam ihm hinterher. Brandt blieb stehen, drehte sich um und sah den Priester an. »Der Unfall war mit das Schlimmste, was passiert ist. Ich habe viele Menschen sterben sehen, aber das hat mich ganz besonders mitgenommen. Ich habe mit meinem … Boss … gehadert«, er deutete mit der Hand nach oben, »aber er hat mir nicht gesagt oder nicht sagen wollen, warum er das zugelassen hat. Ich weiß nur, dass dadurch das Leben von zwei jungen Menschen auf dramatische Weise zerstört wurde. Und nicht nur das Leben dieser beiden, nein, viele Leben sind dadurch zerstört worden.«
»Ich weiß. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Wrotzeck getrauert hat. Komisch, was?«
»Nein.«
»Was, nein?«
»Es ist nicht komisch, nichts ist hier mehr komisch. Ich gebe Ihnen einen Rat, suchen Sie die Wahrheit, und Sie werden sie finden. Und vielleicht kann ich Ihnen doch behilflich sein, ich muss Sie nur bitten, sich noch etwas zu gedulden. Ich weiß nicht, welcher Sinn hinter diesem Unfall steckt, aber es gibt einen, denn nichts geschieht einfach so. Verstehen Sie? Nichts, aber auch gar nichts. Schon gar nicht solche Unfälle.«
»Ich werde mich gedulden, aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Ich werde diesen Fall nämlich erst lösenkönnen, wenn ich weiß, wer Wrotzeck wirklich war. Und Sie sind für mich momentan der einzige, der das zu wissen scheint.«
Lehnert begleitete Brandt bis zur Tür, ging zurück in sein Büro und schenkte sich ein Glas Whiskey ein, obwohl es noch früh am Tag war. Aber diesmal brauchte er etwas zur Beruhigung, denn er wusste, dass er die Wahrheit, die er kannte, nicht auf ewig vor Brandt würde verbergen können. Eine Wahrheit, die unter der beschaulichen Idylle von Bruchköbel viel zu lange verschüttet war. Doch nun schien endlich die Zeit gekommen, da die Wunden der Vergangenheit, die immer allzu schnell verheilt waren, mit Macht wieder aufbrachen. Wunden, die keiner mehr sehen mochte und die doch zu dieser Stadt gehörten. Und wenn sie wie jetzt aufbrachen, dann würden sie diesmal auch endgültig verheilen.
Lehnert setzte sich in seinen Sessel und legte den Kopf in den Nacken. Er schloss die Augen und dachte nach. Er musste und würde einen Weg finden, Brandt zu helfen, denn wie dieser schon sagte, er war der einzige, der alles über Wrotzeck wusste.
Donnerstag, 11.00 Uhr
Thomas Wrotzeck stand neben dem Veterinär Dr. Müller im Stall und beobachtete, wie er die beiden Bullen untersuchte und schließlich zufrieden nickte.
»Die sind in Topform«, sagte er nach einer halben Stunde, packte seinen Koffer und kam auf Thomas zu.»Um die brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, mit denen werden Sie auch in den nächsten Jahren noch eine Menge Geld verdienen.«
»Keine Ahnung, ob wir das wollen«, entgegnete Thomas, der die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben hatte.
»Was heißt, Sie wissen nicht, ob Sie das wollen?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Wir können das aber auch machen wie bisher, ich meine, so, wie Sie und mein alter Herr das gemacht haben.« Thomas sah Müller herausfordernd an, der Ton seiner Stimme hatte etwas Bedrohliches.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Müller, wich Thomas’ Blick aus und wollte sich an ihm vorbeiwinden, doch Thomas versperrte ihm den Weg.
»Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Dann werde ich Ihrem Gedächtnis mal ein bisschen auf die Sprünge helfen. Der Alte ist seit knapp einem Monat unter der Erde, nein, im Moment ist er in der Rechtsmedizin, wo er aufgeschnippelt wird, und da sollte doch alles so weiterlaufen wie vor seinem tragischen Ableben, oder?«
»Was soll wie weiterlaufen?«
»Tun Sie um Himmels willen nicht so scheinheilig. Sie sind genauso ein Gangster, wie mein Alter einer war. Ihr habt gemeinsame Sache gemacht …«
»Jetzt reicht’s aber! Gehen Sie mir aus dem Weg. Sie sind ja völlig durcheinander. Ich kann ja verstehen, dass das gestern nacht nicht sehr angenehm für Sie war, aber …«
»Es war mir sogar ein innerer Reichsparteitag,
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