Schrei der Nachtigall
hat Müller Angst?, fragte er sich.
»Hat er Sie unter Druck gesetzt?«
»Nein«, kam es leise über Müllers Lippen, zu leise und zaghaft, als dass Brandt es nicht aufgefallen wäre.
»Wieso glaub ich Ihnen das bloß nicht?«
»Glauben Sie doch, was Sie wollen.«
»Wieso waren Sie mit ihm befreundet? Oder war es doch keine richtige Freundschaft, sondern eine Abhängigkeit von Ihrem sogenannten Freund?«
Müller schluckte schwer, setzte sich plötzlich aufrecht hin und antwortete: »Es war eine richtige Freundschaft, wir haben uns gegenseitig geholfen … Ich meine natürlich, wir waren füreinander da, wie es sich eben für gute Freunde gehört.«
»Das ist aller Ehren wert«, bemerkte Brandt nicht ohne Ironie, »gute Männerfreundschaften sind selten. Vor allem solche, die so lange anhalten. Aber lassen Sie mich noch mal auf das gegenseitig helfen zurückkommen. Ich verstehe ja, dass Sie ihm geholfen haben, aber worin bestand seine Hilfe?«
»Es war rein finanzieller Natur«, antwortete Müller wie aus der Pistole geschossen, zu schnell, als dass Brandt nicht hellhörig wurde.
»Eine Freundschaft also, die auf Geld aufgebaut war. Okay, lassen wir das erst mal so stehen. Meine nächste Frage betrifft Allegra. Wie hat denn Ihr … Freund … reagiert, als er von dem schrecklichen Unfall seiner Tochter erfahren hat? War er sehr traurig?«
»Wären Sie es nicht?«
»Das ist keine Antwort. War er’s, oder war er’s nicht?«
»Das wissen Sie doch bestimmt längst von seiner Frau.Nein, er war nicht sonderlich traurig, er wusste doch gar nicht, was das ist! Der hat kaum darüber gesprochen …«
»Was glauben Sie, warum er nicht darüber gesprochen hat? Schließlich war es seine Tochter, die beinahe ihr Leben verloren hat.«
»Hören Sie, Wrotzeck war kein Familienmensch. Es gab nur einen Menschen, den er geliebt hat, und das war er selbst. Und vielleicht seinen Sohn Thomas. Aber als der ihm gesagt hat, dass er den Hof nicht übernehmen würde, war auch sein Sohn für ihn gestorben.«
»Was heißt ›auch‹? Wer ist denn noch gestorben?«
»Das war doch nur sinnbildlich gemeint. Sind Sie jetzt fertig?«
»Nein. Warum hatte er etwas gegen Allegra? Darüber wird er doch wohl mit Ihnen gesprochen haben.«
»Keine Ahnung. Er hatte grundsätzlich Probleme mit Frauen. Die einzigen Frauen, die er einigermaßen respektvoll behandelt hat, waren die Huren. Sie sind dazu da, Wünsche zu erfüllen und nur zu reden, wenn …« Müller, der merkte, dass er zu viel gesagt hatte, presste die Lippen aufeinander.
»Nur zu reden, wenn was?«
»Wenn sie gefragt werden«, antwortete er kaum hörbar.
»Und Sie denken natürlich genauso. Haben Sie Wrotzeck eigentlich gemocht?«
»Gemocht wäre zu viel gesagt, aber er war nicht so schlecht, wie er von allen hingestellt wird. Er war halt nicht einfach zu nehmen, weil er ein Sturkopf war.«
»Ist schon seltsam, jeder will mir weismachen, dass er gar nicht so übel war, aber fast jeder hat ihn gehasst.Kommt Ihnen das nicht auch ein bisschen merkwürdig vor?«
Schulterzucken.
»Noch mal meine Frage: Haben Sie einen Verdacht, wer für seinen Tod verantwortlich sein könnte?«
»Es kommen viele in Frage, zu viele. Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Jemand aus seiner Familie oder irgend jemand sonst …«
»Irgend jemand sonst? Köhler vielleicht? Oder Sie?«
Müller rann der Schweiß in Bächen übers Gesicht. Er versuchte, sich noch eine Zigarette anzuzünden, schaffte es aber nicht und warf sie einfach zu Boden.
»Warum sind Sie so nervös?« Brandt setzte sich wieder. »Schauen Sie mich an.« Müller hob vorsichtig den Kopf, um ihn gleich wieder zu senken. »Was ist los mit Ihnen? Was wissen Sie über Wrotzeck, was Sie mir verheimlichen? Und warum verheimlichen Sie es mir?«
»Gehen Sie, bitte gehen Sie. Ich weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen gesagt habe.«
»Sie sollten vielleicht mal zur Beichte gehen, das erleichtert das Gewissen und die Seele.«
»Blödsinn!«
»Wrotzeck hat’s regelmäßig gemacht. Er scheint eine Menge auf dem Kerbholz gehabt zu haben. Oder wussten Sie das etwa nicht?«
»Nein«, antwortete Müller zögerlich und in einem Ton, der Brandt verriet, dass er doch von Wrotzecks Beichtgängen Kenntnis hatte.
Brandt holte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte sie Müller. »Hier, für den Fall, dass Ihnendoch noch etwas einfällt. Ich bin mir sogar sicher, dass Ihnen noch etwas einfällt, was für
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