Schrei der Nachtigall
einmal zu sehen, wie sie ihn anschaute, als würde sie ihn erkennen. Er war aufgewühlt und glücklich. Er wusste, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Allegra die Augen nicht nur für Sekunden, sondern für Minuten und sogar Stunden öffnete. Es war das, was er gewollt und wofür er gebetet hatte. Und nun waren seine Gebete endlich erhört worden. Das Leben war schön. Zum Abschied sagte er, während er über ihr Haar streichelte: »Schlaf gut, meine Nachtigall.«
Donnerstag, 18.55 Uhr
Brandt hatte zu Hause eine Liste mit Fragen erstellt, die ihn nach seinen Gesprächen mit Thomas Wrotzeck und vor allem Pfarrer Lehnert beschäftigten. Er hatte, bevor er losfuhr, mit Andrea noch zu Abend gegessen und ihr gesagt, dass es eventuell spät werden könne.
»Dann fahr ich zu mir und geh früh ins Bett, ich muss mal wieder richtig ausschlafen«, hatte sie entgegnet, ihn noch einmal kräftig gedrückt und gesagt, dass sie am Wochenende wieder bei ihm übernachte.
Er kam um fünf vor sieben bei Dr. Müller an. Im Vorzimmer saßen noch zwei Frauen. Die eine hatte einen Hund, der sich ängstlich unter einem Stuhl verkrochen hatte, als würde er ahnen, dass die folgenden Minuten nicht sehr angenehm für ihn werden würden. Die andere hielt einen Käfig mit einem Wellensittich fest umklammert und schaute kurz auf, als Brandt sich setzte. Er nahm sich eine Zeitschrift über Pferde und blätterte lustlos darin herum. Müller kam zusammen mit einem tränenüberströmten Mann aus dem Behandlungszimmerund klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter.
Um halb acht waren sowohl der Hund als auch der Wellensittich verarztet. Müller fragte, nachdem auch die letzte Patientin die Praxis verlassen hatte: »Was kann ich für Sie tun?« Er war mittelgroß und untersetzt, hatte eine Stirnglatze, große, leicht hervorstehende Augen und eine schnarrende helle Stimme, die in krassem Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild stand. Er war nicht ungepflegt, dennoch hätten seine Haare einen Schnitt dringend nötig gehabt, die Hände waren eher klein, die Finger wulstig, sein Atem roch nach Rauch.
»Brandt, Kripo Offenbach. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Es geht um Herrn Wrotzeck.«
»Ja, und?«, fragte er mit gekünsteltem Lachen.
»Wollen wir uns hier unterhalten?«
»Ich schließ nur schnell ab, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich habe allerdings nicht viel Zeit.«
»Ein paar Fragen werden Sie mir schon beantworten müssen«, sagte Brandt und nahm wieder Platz, während Müller abschloss und sich Brandt gegenüber auf einen der typischen schwarzen Wartezimmerstühle setzte und sich eine Zigarette ansteckte.
»Schießen Sie los.«
»Sie waren mit Herrn Wrotzeck befreundet, wie ich erfahren habe.«
»Und, ist das ein Verbrechen?«
»Dr. Müller, ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen«, erwiderte Brandt kühl. »Mich interessiert, wie lange Sie befreundet waren.«
»Zehn Jahre, vielleicht auch elf. Was soll das? Ich habe gehört, dass Sie ihn exhumiert haben, aber was wollen Sie von mir?«, fragte er mit Schweiß auf der Stirn, obgleich es in dem Raum recht kühl war.
»Zum Beispiel will ich wissen, wem Sie zutrauen würden, Ihren Freund auf dem Gewissen zu haben?«
Müller verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Soll ich jetzt einfach jemanden verdächtigen?«
»Nein, aber Sie waren der einzige Freund, den Wrotzeck hatte. Erzählen Sie mir ein bisschen was aus seinem Leben. Zum Beispiel, was Ihre Freundschaft ausgemacht hat.«
Müller schaffte es nicht, Brandt anzusehen. Er wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn, zog eine Zigarette aus der Brusttasche und zündete sie an.
»Darf ich fragen, was das mit seinem Tod zu tun haben soll?«
»Dürfen Sie. Aber gut, wenn Sie meine Frage nicht beantworten möchten, tue ich das für Sie. Sie haben viele Abende und Nächte miteinander verbracht, und mich interessiert brennend, wo Sie sich getroffen haben.«
»Was geht Sie das an?«
»Dr. Müller, dem Ring an Ihrer Hand entnehme ich, dass Sie verheiratet sind. Wäre es Ihnen lieber, wenn wir die Befragung im Beisein Ihrer Frau und vielleicht auch Ihrer Kinder, sofern Sie welche haben, fortsetzen? Ich weiß, dass sich Ihre Wohnung direkt über uns befindet«, sagte Brandt lapidar.
»Ist das eine Drohung?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Also, in welchen Clubs und Bars haben Sie sich aufgehalten?«
»Mein Gott, ich bin erledigt, wenn meine Frau davon erfährt. Sie dürfen
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