Schrei der Nachtigall
ist schön. Ich werde dann mal zu ihr gehen.«
Caffarelli begab sich in das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Wie immer blieb er einen Moment an der Tür stehen und betrachtete das Mädchen, das regungslos im Bett lag. Er hatte die Hände gefaltet und murmelte ein Gebet, bevor er den Stuhl direkt vor das Bett stellte und sich auf ihm niederließ. Aus einer Stofftasche holte er einen Discman und Kopfhörer heraus und sagte: »Ich habe dir heute etwas ganz Besonderes mitgebracht. Du erinnerst dich bestimmt noch an unseren Auftritt zu Weihnachten, sogar zwei Zeitungen haben darüber berichtet. Du weißt sicher auch noch, dass das Konzert mitgeschnitten wurde, und jetzt habe ich es auf CD. Aber am besten hörst du es dir an, es war schließlich dein bisher größter Auftritt. Selbst die Callas hätte es nicht besser singen können. Aber hör selbst.«
Caffarelli setzte Allegra vorsichtig die Kopfhörer auf und stellte den Discman an. Während die Musik lief, hielt er Allegras Hand. Nach zwanzig Minuten drückte er auf Pause und sagte: »Hat es dir bis jetzt gefallen? Oder bist du mit deiner Stimme noch immer nicht zufrieden? Aber du bist ja immer kritischer mit dir selbst umgegangen, als andere es taten. Na ja, das ist eben deine Art, du bist eine Perfektionistin, und ich bin eigentlich auch einer.«
Er sah auf ihre Hände und dann auf ihr Gesicht, und für Sekunden meinte er zu träumen. Er erschrak, doch nicht vor Entsetzen oder Furcht, nein, sondern weil etwas eingetreten war, woran er zwar geglaubt und was er sich sehnlichstgewünscht hatte, aber dass es so schnell eintreten könnte, damit hätte er nicht gerechnet. Sie hatte die Augen nicht nur geöffnet, sondern blickte in seine Richtung, und ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie ihm etwas mitteilen. Er legte sein Ohr an ihren Mund, um zu verstehen, was sie sagte.
»Ich bin müde«, kam es kaum hörbar über ihre Lippen.
»Allegra, Allegra, meine kleine Nachtigall! Ich glaube dir, dass du müde bist, aber du darfst jetzt nicht schlafen, nicht jetzt. Warte noch einen Augenblick. Bitte!« Er drückte lange und kräftig auf den Alarmknopf. Schwester Sarin kam angerannt. Caffarelli sagte beinahe ehrfurchtsvoll: »Sie hat die Augen aufgemacht und gesagt, dass sie müde ist. Hier, sehen Sie, sie bewegt sich.«
»Ich hole Dr. Bakakis.«
Kaum eine Minute später erschien die Ärztin. »Was hat sie gesagt?«
»Dass sie müde ist. Sie hat wörtlich gesagt: ›Ich bin müde.‹ Ich habe es genau verstanden. Kommen Sie, noch ist sie wach. Ich wusste, sie würde zurückkehren. Meine kleine Nachtigall ist wieder da.« Er hatte Tränen in den Augen, während er noch immer Allegras Hand hielt und spürte, wie sie einmal ganz leicht seine drückte. »Das Leben hat sie wieder.«
»Ihr Herzschlag ist schneller geworden, der Blutdruck gestiegen«, sagte Dr. Bakakis so ruhig wie möglich, auch wenn sie innerlich aufgewühlt war.
»Ich habe es gewusst, ich habe es immer gewusst.« Matteo Caffarelli liefen Tränen übers Gesicht, und immer wieder streichelte er Allegra übers Haar.
»Herr Caffarelli, wenn Sie bitte für einen Moment draußen warten würden, ich möchte Allegra untersuchen.«
Caffarelli erhob sich und ging auf den Flur. Er war unruhig wie lange nicht mehr. Wie sehr hatte er auf diesen Augenblick gewartet, wie viele Gebete hatte er gesprochen, wie viele Kerzen angezündet.
Nach fünf Minuten kam Dr. Bakakis heraus und sagte: »Sie ist wieder eingeschlafen. Das will aber nichts heißen, es kann sein, dass sie sich jetzt ausschläft. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass solche Momente bei Wachkomapatienten nicht selten sind.«
»Sie hat gesagt, dass sie müde ist. Das ist doch ein Zeichen, oder? Ja, es ist ein Zeichen.«
»Sicher. Trotzdem sollten wir mit Prognosen vorsichtig sein. Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Ich habe ihr ein Konzert vorgespielt, in dem sie bei den meisten Liedern die Solistin war. Es war an Weihnachten. Kann ich wieder zu ihr?«
»Natürlich. Und sollte etwas sein, klingeln Sie«, sagte Dr. Bakakis mit aufmunterndem Lächeln.
Caffarelli blieb bis um acht, obwohl er diesmal gerne noch länger, viel länger geblieben wäre, aber er war ein pflichtbewusster Mann und wollte Brandt, der sich für einundzwanzig Uhr angemeldet hatte, nicht unnötig warten lassen. Er spielte ihr noch zweimal die CD vor, und immer wieder zuckte Allegra bei bestimmten Passagen mit den Händen und den Augen. Kurz bevor er ging, meinte er noch
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