Schrei der Nachtigall
Boden.
»Ha, dass ich nicht lache! Du weißt doch gar nicht mehr,was das ist. Du sprichst von Liebe, aber du müsstest dabei mal den Ausdruck in deinen Augen sehen. Du bestimmst, was Liebe ist. Aber da drinnen«, sagte er und klopfte sich auf die Brust, »da drinnen, wo andere ein Herz haben, ist bei dir nur noch ein kalter Stein.«
»Ich wünsche, dass du das Haus noch heute verlässt. Pack deine Sachen und verschwinde.«
»Nein, den Gefallen werde ich dir nicht tun, denn ich habe meine Praxis hier, falls du das vergessen haben solltest. Und ohne Praxis kein Geld.«
»Die Praxis kannst du behalten, aber in die Wohnung kommst du mir nicht mehr. Und verlass dich drauf, ich werde gleich morgen früh zum Anwalt gehen und die Scheidung einreichen. Du wirst bluten, mein Lieber, bluten, bis du tot umfällst.«
»Leck mich doch am Arsch«, sagte er nur, ging nach oben, stopfte zwei Koffer mit dem Nötigsten voll und verließ wortlos die Wohnung.
»Ich werde das Schloss austauschen lassen«, rief sie ihm hinterher.
Er drehte sich nicht mehr um. Dieser Tag war über seine Kräfte gegangen. Er wollte nur noch seine Ruhe haben. Einerseits war er erleichtert, endlich seinen jahrelang aufgestauten Frust losgeworden zu sein, andererseits fühlte er Unbehagen bei dem Gedanken, dass Brandt wiederkommen könnte. Nein, es war mehr als Unbehagen, es war Angst. Eine Angst, die er verdrängen wollte, die sich aber immer stärker bemerkbar machte, während er in seiner Praxis saß, die Koffer neben sich, den Kopf in den Händen vergraben. Nach einer Weile stand er auf, schloss die Praxis ab und gingzu seinem Auto. Er fuhr zu einer Kneipe, bestellte sich einen Teller Spaghetti Bolognese und trank dazu Wein. Nach fünf Gläsern zahlte er, und obgleich er längst nicht mehr fahrtauglich war, holte er sich an einer Tankstelle zwei Flaschen Wodka und mehrere Dosen Bier, schaffte es, ohne angehalten zu werden, zurück zum Haus und verkroch sich in einem Nebenraum der Praxis, in dem auch ein Bett stand, in dem er oft schlief, wenn seine Frau ihm wieder einmal auf die Nerven ging. Doch diesmal würde es für länger sein, so lange, bis er eine geeignete Wohnung gefunden hatte. Um zweiundzwanzig Uhr, er hatte sich gerade hingelegt und einen tiefen Schluck aus der Wodkaflasche genommen, klingelte sein Telefon. Er hievte sich aus dem Bett, schleppte sich mit wackligen Beinen ins Behandlungszimmer und nahm ab. Am andern Ende hörte er nur schweres Atmen. Er drückte auf die Gabel und legte den Hörer daneben. Ihm war nicht nach üblen Scherzen.
Donnerstag, 21.00 Uhr
Matteo Caffarelli hatte mit seiner Frau Anna und Sohn Luca zu Abend gegessen. Noch hatte er Anna nichts von dem Wunder berichtet, das im Krankenhaus geschehen war und das er als erster erleben durfte. Er würde mit ihr darüber sprechen, sobald der Kommissar wieder gegangen war. Pünktlich zur ausgemachten Uhrzeit klingelte es. Caffarelli öffnete die Tür und bat Brandt herein. Sie begaben sich nach oben, wo Caffarelli seine Frau und seinen Sohn vorstellte.
»Meine Frau Anna haben Sie ja bereits kennengelernt, und das ist unser Sohn Luca.«
»Angenehm«, sagte Brandt und reichte erst Anna Caffarelli, dann Luca die Hand. Anna war eine ansehnliche Person, groß, sehr schlank und mit Augen, die neugierig alles um sie herum aufzusaugen schienen. Als sie Brandt ansah, hatte er das Gefühl, als könnte sie in sein tiefstes Inneres blicken. Doch es war nicht aufdringlich oder unangenehm, sie schien lediglich erkunden zu wollen, mit was für einem Menschen sie es zu tun hatte. Sie hatte ein offenes, überaus freundliches und beinahe faltenloses Gesicht, obwohl sie die vierzig bestimmt schon überschritten hatte. Luca war ihr äußerlich sehr ähnlich, fast wie aus dem Gesicht geschnitten, mit bis auf die Schultern fallenden Haaren und braunen Augen, die den Fremden ernst und kritisch musterten.
»Macht es dir etwas aus, wenn wir ins Wohnzimmer gehen?«, fragte Caffarelli seine Frau.
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe sowieso noch zu tun, und Luca wollte noch zu Mirko rüber.«
»Aber komm nicht zu spät nach Hause«, bat Caffarelli und lächelte Luca zu. Und zu Brandt: »Wenn Sie mir bitte folgen möchten.«
Sie gelangten in ein kleines hübsches, fast wie eine Puppenstube wirkendes Zimmer, in dem sich Brandt auf Anhieb wohl fühlte, auch wenn es eher schlicht und doch sehr gemütlich eingerichtet war. Die Couchgarnitur bestand aus grobem braunem Cord, der Tisch hatte eine
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