Schrei der Nachtigall
hatte beides. Sein Büro ist gleich hier rechts, sein Zimmer ist im ersten Stock.«
»Dürfte ich einen Blick in dieses Zimmer werfen?«
»Ich habe nichts dagegen. Aber was erwarten Sie dort zu finden, wenn ich fragen darf?«
»Keine Ahnung. Vielleicht einen Hinweis darauf, warum Ihr Mann zur Beichte gegangen ist.«
Liane Wrotzeck sah Brandt mit diesem Sie-wollenmich-wohl-auf-den-Arm-nehmen-Blick an. »Was, mein Mann soll zur Beichte gegangen sein? Wo haben Sie denn das her?«
»Hat Ihr Sohn Ihnen das nicht gesagt? Ich habe doch gestern schon mit ihm darüber gesprochen.«
»Das ist unmöglich! Mein Mann hat die Kirche gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Das glaube ich einfach nicht.«
»Fragen Sie Pfarrer Lehnert, er wird es Ihnen bestätigen. Mehr aber auch nicht.«
»Was heißt, mehr aber auch nicht?«
»Beichtgeheimnis«, erwiderte Brandt lächelnd. »Können Sie sich denn vorstellen, warum Ihr Mann zu Lehnert gegangen ist?«, fragte er, während er neben Liane Wrotzeck die breite Treppe in den ersten Stock hinaufstieg. Das Holz knarrte unter ihren Füßen, alter Dielenboden, der oben wahllos von ein paar einfachen Teppichen bedeckt wurde.
»Wie soll ich mir vorstellen, warum er zu Lehnert gegangen ist, wenn ich nicht mal wusste, dass er in die Kirche geht?«, sagte sie nicht ohne Ironie in der Stimme. »Hier, das war das Zimmer meines Mannes.« Sie drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. »Ich habe es seit seinem Tod nicht betreten, mein Sohn auch nicht.«
»Und warum? Hat er hier nicht seine Unterlagen wie Versicherungen und so weiter aufbewahrt?«
»Nein, das ist alles unten im Büro. Ich hatte zu Lebzeiten keinen Zutritt zu diesem Zimmer, und ich habe auch nicht vor, es jetzt zu betreten.«
»Hatte Ihr Mann Ihnen verboten …«
»Ja«, antwortete sie schnell.
»Aber er hat es nicht abgeschlossen«, bemerkte Brandt.
»Nein, aber er hätte sofort gemerkt, wenn jemand drin gewesen wäre. Er hat alles gemerkt. Schauen Sie sich um, und lassen Sie sich von mir aus so viel Zeit, wie Sie wollen. Ich bin wieder unten.«
Liane Wrotzeck hatte den Fuß nicht über die Schwelle gesetzt, sondern war davor stehen geblieben, als würde sie fürchten, dem Geist ihres Mannes darin zu begegnen. Sie drehte sich um, er hörte sie weggehen.
Brandt lehnte die Tür an. Es war warm und stickig, geradezu muffig, und er glaubte Liane Wrotzeck, dass sie dieses Zimmer nicht betreten hatte. Vielleicht früher einmal, vor vielen Jahren, woran sie sich jetzt nicht mehr erinnerte oder nicht mehr erinnern wollte. Die Einrichtung bestand aus einem alten braunen Ohrensessel mit einem dazugehörigen Fußschemel, einer Vitrine, in der ein paar Gläser standen, einem kleinen Schrank, einem kleinen, aber massiven Holztisch mit fein gedrechselten Beinen, einem alten Sekretär, einem Sofa und einem Bett, alles im Landhausstil. Die Vorhänge waren zugezogen, so dass kaum Licht hereinfiel. Er schob sie zurück und sah sich um, ohne etwas zu berühren. Schließlich öffnete er den Schrank, in dem nichts als Kleidungsstücke, vornehmlich Unterwäscheund Socken, waren. Auf dem Tisch standen ein leeres Glas, eine Flasche Bier und eine angebrochene Flasche Korn, im Aschenbecher waren ein paar Zigarettenstummel. Staub hatte sich auf die Möbel gelegt, und Brandt fragte sich, wann hier wohl zuletzt sauber gemacht worden war und vor allem, von wem. Die Bettdecke und das Kissen waren zerknautscht und sahen aus, als hätte jemand darin geschlafen, was eigentlich nur Wrotzeck gewesen sein konnte. Zwei paar Schuhe standen unordentlich vor dem Bett, einige Kleidungsstücke lagen darauf, und bei näherem Hinsehen erkannte Brandt, dass die Bettwäsche vermutlich seit Monaten nicht gewechselt worden war.
Bei jedem Schritt, den er machte, ächzten die alten Dielen unter seinen Schuhen. Was ihn wunderte, war, dass der Raum weder ein Radio noch einen Fernseher hatte, denn er war inzwischen fest überzeugt, dass Wrotzeck und seine Frau in getrennten Betten geschlafen hatten und er sich, wenn er zu Hause war, hier auch aufgehalten hatte. Er würde sie später fragen. Er versuchte, den ebenfalls von einer feinen Staubschicht überzogenen Sekretär zu öffnen, doch er war abgeschlossen. Brandt suchte nach dem Schlüssel und wollte schon aufgeben, als er ihn schließlich in einem alten Bierkrug mit einem Silberdeckel in der Vitrine fand. Aha, dachte Brandt, er hat also doch befürchtet, jemand könnte in seinem Zimmer rumschnüffeln, wenn
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