Schrei der Nachtigall
ging er in die Praxis, wo Gudrun Müller sauber machte.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie und lehnte sich an den Schreibtisch.
»Gut genug, um meine Fragen nicht zu beantworten. Würden Sie mir vielleicht helfen?«
Sie sah Brandt überrascht an und meinte: »Wie soll ich das machen?«
»Reden Sie mit ihm. Ihr Mann hat Angst, aber ich weiß nicht, wovor. Für meine Begriffe muss es mit Wrotzeck zu tun haben.«
»Ich dachte, die wären befreundet. Sind Sie sicher, dass er Angst hat?«
»Ziemlich. Aber wenn Sie mit ihm reden, versuchen Sie, diplomatisch zu sein, mit Vorwürfen kommen Sienicht weiter, im Gegenteil, er wird sich noch mehr verschließen.«
»Sprechen Sie da etwa aus persönlicher Erfahrung?«, fragte sie mit einem leicht spöttischen Unterton.
»Ja, leider«, antwortete Brandt ernst.
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich aber nichts. Mein Mann und ich, wir haben uns schon lange nicht mehr allzu viel zu sagen. Er ist die meiste Zeit unterwegs oder in seiner Praxis, ich mach den Haushalt und kümmere mich um die Kinder … Es ist frustrierend. Und wenn man dann auch noch hört, dass er zu Huren geht, Sie glauben gar nicht, was da für Gefühle in einem hochkommen.«
»Ich kann’s mir in etwa vorstellen. Aber ich bin überzeugt, dass Ihr Mann das ohne Wrotzeck nicht getan hätte.« Er machte eine Pause und überlegte, ob er Gudrun Müller von seinem Besuch im Club berichten sollte, und beschloss, es zu tun. »Ich verrate Ihnen jetzt etwas im Vertrauen und bitte Sie, das für sich zu behalten. Ich habe gestern abend noch mit einer dieser Damen gesprochen, die mir gesagt hat, dass sie das Gefühl hatte, dass Ihr Mann nicht gerne dorthin gegangen ist. Und seit Wrotzecks Tod ist er überhaupt nicht mehr dort erschienen. Ich würde Ihnen jetzt gerne einen Rat geben, wie Sie am besten mit ihm umgehen sollten, aber jeder Rat ist ein schlechter Rat, hat mein Vater mal gesagt.«
Gudrun Müller kniff die Lippen zusammen und meinte nach einigem Überlegen: »Ich werde sehen, was ich machen kann. Mal schauen, ob noch was zu retten ist. Und es tut mir leid, wenn ich vorhin so grantig war, aber das gesternhat mir den Rest gegeben. Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugekriegt, hab nur gedacht, wie das in Zukunft weitergehen soll. Ich mit den Kindern, und er geht zu seinen geliebten Huren. Wenn ich’s mir genau überlege, muss Wrotzeck die treibende Kraft gewesen sein. Erst durch ihn hat er sich verändert. Ich dachte immer, es wäre die viele Arbeit, aber vielleicht haben Sie recht, vielleicht steckt doch was anderes dahinter. Wie kann ich Sie erreichen?«
Brandt gab ihr seine Karte und sagte: »Sie können mich jederzeit anrufen, am besten auf dem Handy, weil ich im Moment kaum im Büro bin. Und Kopf hoch, es gibt für alles eine Erklärung und bestimmt auch eine Lösung für Ihr Problem. Wiedersehen.«
»Wiedersehen.«
Brandts nächster Besuch galt Pfarrer Lehnert.
Freitag, 10.50 Uhr
Sie. Ich habe schon mit Ihnen gerechnet.« Lehnert hatte tiefe Ränder unter den Augen, als hätte er kaum oder gar nicht geschlafen. Er roch streng nach Alkohol und Rauch.
»Sind Sie Hellseher?«, konnte sich Brandt nicht verkneifen zu sagen.
»Nein, ich kenne nur die Menschen. Gehen Sie schon ins Arbeitszimmer, ich komme gleich nach.«
Brandt sah sich in dem noch immer unaufgeräumten und verqualmten Zimmer um, bis Lehnert angeschlurft kam. Auf dem Tisch stand eine halb volle Flasche Whiskey, danebenein Glas. Lehnert schenkte sich etwas Whiskey ein und trank das Glas leer. Daraufhin zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Ist das nicht etwas zu früh am Tag«, sagte Brandt und deutete auf die Flasche.
»Es ist nie zu früh und nie zu spät«, war die Antwort.
»Herr Lehnert, würden Sie mir verraten, wann Herr Wrotzeck zum ersten Mal die Beichte abgelegt hat? Oder fällt das auch unter das Beichtgeheimnis?«
»Das kann ich Ihnen sogar genau sagen, es war der 24. März 2001. Hilft Ihnen das weiter?« Er fragte es, ohne eine Miene zu verziehen, schenkte sich noch mehr Whiskey ein und hielt das Glas einen Moment in der Hand, bevor er es leerte.
Brandt war wie elektrisiert, als er das Datum hörte. Caffarelli hatte ihm gestern gesagt, dass es im März vor drei Jahren war, als Lehnert aussah, als wäre er dem Teufel persönlich begegnet.
»Schon möglich. Wrotzeck war bei Ihnen und hat die Beichte abgelegt. Aber Sie werden mir natürlich nicht verraten, was er Ihnen anvertraut hat,
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