Schrei der Nachtigall
er nicht zu Hause war.
Das Innere des Sekretärs war beinahe penibel aufgeräumt, ganz anders als der Rest des Zimmers. Alles lag geordnet neben- und aufeinander, in der Mitte befand sich ein großes Fach, rechts und links daneben jeweils zweikleinere sowie zwei Schubladen. Brandt zog sich einen Stuhl heran und durchsuchte die Papiere, von denen viele Schriftwechsel aus längst vergangenen Zeiten waren. Fast alles war persönlicher Natur, und Brandt fragte sich, warum er dies aufgehoben hatte. Sentimentalität, alte Erinnerungen an bessere Zeiten? Wrotzeck und sentimental? Nee, kann ich nicht glauben.
Nach einer halben Stunde, in der er jeweils einen kurzen Blick auf diverse Briefe und andere Schriftstücke geworfen hatte, nahm er einen kleinen Karton heraus, in dem sich Postkarten und Fotos befanden. Viele der Fotos zeigten Aufnahmen von Wrotzeck als Kind, bei seiner Einschulung, wie er auf dem Hof mithalf, seine ersten Melkversuche, wie er auf einem Pferd saß, an der Seite seiner Eltern und mit Arbeitern, vor allem aber lachte er auf vielen dieser Fotos oder machte zumindest ein fröhliches Gesicht. Auf ein paar wenigen war er mit seiner Frau und den Kindern zu sehen, auf dem Schützenfest oder anderen Veranstaltungen. Und ein altes Schwarzweißfoto zeigte ihn mit strengem Seitenscheitel und einer Kerze in der Hand und sichtlich stolz bei der Kommunion. Brandt hielt das Bild eine Weile in der Hand und fragte sich, wie aus einem solchen Jungen, der einen aufgeweckten und aufgeschlossenen Eindruck machte, jemand werden konnte, der von allen gehasst und verachtet wurde. Den niemand mehr mochte und von dem sich die Umwelt abwandte. Der sein Glück bei Huren suchte und, nach allem, was er bisher gehört hatte, andere ins Verderben stürzte. Jemand, der vielleicht ein solch düsteres Geheimnis mit sich herumtrug, dass selbst ein gestandener Priester praktisch zu Eis erstarrte,als er davon bei der Beichte hörte. Junge, dachte Brandt, was ist mit dir passiert? Und was hast du angerichtet? Und warum wurdest du, wie du warst?
Er legte das Foto zur Seite, sah sich die restlichen an und blieb mit einem Mal bei einem hängen, das in eine Spezialfolie eingeschweißt war. Es zeigte eine bildhübsche junge Frau von vielleicht zwanzig Jahren (aber nicht Liane Wrotzeck), mit langen blonden Haaren, strahlendem Lächeln, großen blauen Augen und makellos weißen Zähnen. Brandt drehte es um, doch weder das Datum, wann das Foto gemacht wurde, noch der Name der Frau waren vermerkt. Brandt spürte instinktiv, dass dieses Foto für Wrotzeck eine besondere Bedeutung gehabt haben musste, denn es war eines der wenigen, an dem die Spuren der Zeit vorübergegangen waren. Und warum hatte er es eingeschweißt, als wäre es für die Ewigkeit? Und vor allem, wer war die junge Frau?
Brandt steckte es ein, durchsuchte noch weitere zehn Minuten den Sekretär, obwohl er überzeugt war, in seiner Tasche ein wesentliches Stück des Mosaiks zu haben. Er schloss wieder ab und legte den Schlüssel in den Bierkrug zurück, zog den Türschlüssel ab, der von innen steckte, denn er war sicher, beim zweiten Suchen noch mehr Material zu finden. Er schloss ab und begab sich nach unten.
Wieder im Erdgeschoss, warf er einen Blick in das Wohnzimmer, das leer war.
»Frau Wrotzeck?«, rief er.
Sie kam aus der Küche. »Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«
»Möglich«, antwortete er, zog das Foto aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. »Kennen Sie diese Frau?«
Liane Wrotzeck legte die Stirn in Falten, betrachtete einen Moment das Bild und sagte: »Das ist Frau Köhler. Ich verstehe nicht ganz …« Sie machte ein ratloses Gesicht.
»Ich auch nicht. Ihr Mann hatte es unter all seinen Fotos im Sekretär. Den Schlüssel des Zimmers Ihres Mannes habe ich bei mir und möchte Sie auch bitten, falls ein Zweitschlüssel existiert, den Raum nicht zu betreten.«
»Ich habe keinen Zweitschlüssel, zumindest weiß ich nichts davon. Das Foto ist mindestens zwanzig Jahre alt, wenn nicht sogar älter.«
»Und Sie haben keine Ahnung, warum Ihr Mann ausgerechnet dieses Foto eingeschweißt hat?« Brandt blickte sie prüfend an, doch sie schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich habe Ihnen doch von der Feindschaft zwischen meinem Mann und Köhler erzählt. Ich weiß wirklich nicht, was es damit auf sich hat.«
»Galt diese Feindschaft auch Frau Köhler?«
»Was glauben Sie denn?! Mein Mann hat keine Gelegenheit ausgelassen, Köhler und seiner Familie eins
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