Schrei der Nachtigall
auszuwischen. Aber wie gesagt, es ging nur um diese verfluchten neun Meter Land.«
»Sind Sie da wirklich so sicher?«, fragte Brandt und sah Liane Wrotzeck prüfend an.
»Ja, da bin ich mir sicher. Damit fing alles erst so richtig an.«
»Was meinen Sie mit ›so richtig‹?«
»Das habe ich doch alles schon erzählt. Mein Mann war auch schon vorher nicht gerade der Umgänglichste, aberseit er die Urkunde gefunden hatte, war er nicht mehr zu halten. Neun Meter! Das ist weniger, als unser Wohnzimmer lang ist. Ich begreif’s bis heute nicht.«
»Hat sich Herr Caffarelli gestern abend oder heute bei Ihnen gemeldet?«
»Sie meinen, ob er mir das von Allegra erzählt hat?« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie mit leicht glasigen Augen fortfuhr: »Er war heute morgen hier und hat mir berichtet, was gestern geschehen ist. Thomas ist gerade bei ihr, und ich werde nachher hinfahren. Aber ich will mir nicht zu viel Hoffnung machen, sonst werde ich wieder enttäuscht.«
»Warum glauben Sie nicht daran, dass alles gut wird?«, fragte Brandt. »Sie haben eine bildhübsche Tochter, und Herr Caffarelli ist so besorgt um sie. Wenn er so fest von der Genesung überzeugt ist, warum …«
»Ich glaube an gar nichts mehr, denn immer, wenn ich dachte, alles wird gut oder es wird sich etwas ändern, ist genau das Gegenteil eingetreten. Es wurde immer schlimmer und schlimmer und schlimmer. Jedes Mal, wenn ich mir Hoffnung machte, er würde sich ändern, war es, als würde man mir kurz darauf eine Plastiktüte über den Kopf stülpen. Aber gehen wir doch rüber, oder haben Sie keine Zeit mehr«, sagte sie. Das Abweisende, das sie am Vortag noch gezeigt hatte, war wie weggeblasen, ja, es schien sogar, als wäre sie froh, endlich jemanden zu haben, mit dem sie reden konnte, und wenn es nur ein lausiger Bulle war.
»Ich bin nicht in Eile«, erwiderte er, obwohl er eigentlich vorhatte, zu Köhler zu fahren.
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil ich Sie bittenmöchte, Thomas nicht zu sehr zu belasten. Er spielt zwar den Starken, ist aber in Wirklichkeit sehr sensibel. Er weiß gar nicht, was in all den Jahren so vorgefallen ist. Behelligen Sie ihn bitte nicht weiter.«
»Ihr Sohn kommt mir gar nicht so sensibel vor. Zudem ist er ein ziemlich intelligenter junger Mann.«
»Trotzdem, das alles nimmt ihn sehr mit.«
»Was? Der Tod Ihres Mannes?«
»Nein, das nicht. Die beiden haben sich zwar bis vor ein paar Jahren ganz gut verstanden …«
»Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf, aber Ihr Sohn hat gesagt, dass er seinen Vater gehasst hat. Zweiundzwanzig Jahre lang.«
»Das stimmt so nicht, er sieht es vielleicht nur so.«
»War Ihr Mann ein guter Vater?«
Liane Wrotzeck senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nein, nur ganz am Anfang, als Thomas noch klein war. Aber je größer er wurde, desto gleichgültiger wurde mein Mann ihm und auch Allegra gegenüber. Wobei er Thomas besser behandelt hat, das ist aber auch das einzige.«
»Hat Thomas so eine Art Beschützerrolle übernommen?«
»Allerdings. Er hat sich sogar einmal zwischen meinen Mann und Allegra gestellt, als die zwei sich gestritten haben. Kurt hat immer einen Grund gefunden, Allegra niederzumachen.«
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was er gegen Allegra hatte. Ich kann mir keinen Vater vorstellen, der sich nicht eine solche Tochter wünscht.«
»Kurt war eben anders. Er war ein Landwirt vom alten Schlag. Ihm war wichtig, einen Sohn zu haben, der eines Tages den Hof übernimmt. Allegra war nur ein lästiges Anhängsel. Na ja, und als mein Mann immer mehr darauf drängte, dass Thomas den Hof übernimmt, und der partout nicht wollte, kam es zum Bruch. Sie haben kaum noch ein Wort miteinander gewechselt. Aber Thomas hat sich durchgesetzt, obwohl mein Mann ihm nicht einen Cent mehr gegeben hat. Er hat gemeint, wenn sein Sohn schon Jura studieren will, dann soll er auch zusehen, wie er das finanziell hinkriegt.«
»Und, hat Ihr Sohn es geschafft?«
»Natürlich. Er geht nebenbei arbeiten und ist von Natur aus sehr sparsam. Jetzt kann er sich aber voll und ganz auf sein Studium konzentrieren, ich meine, ich gebe ihm Geld. Das einzige, was ich verhindern konnte, war, dass Thomas rausgeworfen wurde. Kurt war so generös, ihn hier wohnen zu lassen.«
»Frau Wrotzeck, Fakt ist, dass Ihr Mann durch Fremdeinwirkung ums Leben gekommen ist. Wie es scheint, gibt es unzählige Verdächtige, aber ich habe noch niemanden fest im Auge.«
»Warum betonen Sie
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