Schrei der Nachtigall
sagen, dass er gehen müsse, als das Telefon klingelte.
»Wrotzeck … Ja … Mein Gott, ist das wahr? Du hast es selber gesehen? … Ich mach mich gleich fertig und komm in die Klinik … Ja, bitte, bleib da und warte auf mich … Ja, in zwanzig Minuten bin ich dort. Tschüs.« Sie legte auf. »Allegra ist eben wieder für kurze Zeit aufgewacht. Sie hat Thomas sogar erkannt. Können Sie sich das vorstellen, sie hat ihren Bruder erkannt. Und die Ärzte haben gesagt, es könnte sein, dass sie irreparable Gehirnschäden davongetragen hat oder dass sie sich an nichts mehr erinnert.Aber sie hat ihren Bruder erkannt. Matteo, er hat es geschafft. Ich muss mich schnell umziehen, Sie haben’s ja gehört.«
»Schon gut. Und fahren Sie vorsichtig.«
»Allegra lebt! Wer hätte das gedacht!«
Brandt verabschiedete sich. Zum ersten Mal hatte er Liane Wrotzeck lachen sehen. Und sie hatte Tränen in den Augen. Sie war kein Zombie, wie Thomas gesagt hatte, sie hatte sich nur eine Haut zugelegt, durch die keine Gefühle mehr nach außen drangen. Doch nun war auch diese Haut noch zu dünn. Und das war auch gut so.
Es war fast vierzehn Uhr, als er vom Hof fuhr. Während der Fahrt telefonierte er mit Elvira Klein und fragte sie, wie lange sie vorhabe, im Büro zu bleiben. Bis spätestens halb fünf, war ihre Antwort, schließlich wolle sie sich vor dem Treffen mit Andrea Sievers noch zurechtmachen. Dabei hatte ihre Stimme einen leicht süffisanten Unterton. Sie fragte, ob es etwas Wichtiges gebe, doch Brandt sagte nur, nein, das habe auch noch Zeit bis Montag.
»Bis Montag? Ich bitte Sie, wenn Sie Informationen haben, dann her damit.«
»Nein, nicht am Telefon«, erwiderte er grinsend. Er wollte sie zappeln und im Ungewissen lassen, und im Grunde hatte er auch nichts, was wirklich wichtig war. »Vielleicht ruf ich Sie morgen im Laufe des Vormittags an, dann bin ich bestimmt noch einige Schritte weiter. Und bevor ich’s vergesse, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
»Herr Brandt, wenn es so wichtig ist und …«
»Hat Zeit bis morgen.« Er legte einfach auf, so wie sie es normalerweise tat, und lenkte seinen Wagen auf den Köhler-Hof. Er war gespannt, welche Antworten Köhler auf seine Fragen hatte.
Freitag, 14.00 Uhr
Der große schwarze Hund lag vor dem Haus und beäugte Brandt wie gestern schon mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier. Aber er bellte nicht, er knurrte nicht einmal, und nach wenigen Sekunden legte er den Kopf wieder auf den Boden und nahm keine Notiz mehr von dem Fremden.
Köhlers Mutter stand in der Tür, bevor Brandt überhaupt klingeln konnte.
»Mein Sohn ist im Stall«, sagte sie barsch. »Dort drüben.«
»Danke.«
Brandt überquerte den Hof und betrat den Stall. Er hätte sich am liebsten die Nase zugehalten, so beißend war der Gestank, den er nicht gewohnt war und an den er sich auch nie gewöhnen würde. Da ist die Pathologie ja die reinste Parfümerie dagegen, dachte er.
»Herr Köhler«, rief Brandt, der Köhler nicht sah. Er wollte ihn nicht erschrecken.
»Kommen Sie ruhig näher. Haben Sie schon mal ein neugeborenes Kalb gesehen? Es kann sich kaum auf den Beinen halten. Ist erst drei Stunden alt.« Köhler, der gerade Heu auffüllte, kam langsam hoch, streckte sich und winkte den Kommissar heran.
»Hallo. Haben Sie noch lange hier zu tun?«, fragte Brandt.
»Bin gleich fertig. Ist nichts für Ihre Nase, stimmt’s oder hab ich recht?«, fragte er grinsend. »Na ja, die Stadtmenschen können eben mit der guten Landluft nichts anfangen. Gehört aber dazu, schließlich trinkt fast jeder Milch und isst Fleisch. Ich komm gleich raus.«
Brandt warf einen kurzen Blick auf das Kalb, das tatsächlich noch sehr wacklig auf den Beinen war, während die Mutter es vorsichtig und liebevoll ableckte.
Draußen wartete er fünf Minuten auf einer alten Holzbank. Sein Magen meldete sich, und er merkte, dass er seit dem Frühstück nichts zu sich genommen hatte. Er würde jetzt auch noch bis zum Abend durchhalten, sich und seinen Töchtern die halbe Karte beim Italiener bestellen und einfach abschalten, auch wenn er wusste, dass dies nicht möglich war. Solange ein Fall nicht beendet war, beschäftigte er ihn manchmal sogar in den Träumen.
Köhler kam aus dem Stall, spritzte sich die Hände mit einem Schlauch ab und setzte sich neben Brandt.
»Werfen Ihre Kühe oft?«
»Kühe sind keine Katzen oder Hunde«, antwortete Köhler mit vergebendem Lächeln ob der Unwissenheit Brandts. »Einmal im
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