Schrei in der Nacht
ausgezogen hatte. Der Seidenanzug, den sie auf der Reise hatte tragen wollen, war hoffnungslos zerknittert. Kein Wunder, daß ich nicht schlafen konnte, dachte sie.
Eine lange, heiße Dusche vertrieb die betäubungsähnliche Zerschlagenheit. Sie hüllte sich in das schwere Badetuch, ging ins Schlafzimmer und zog eine Schublade auf. Sie fand ausgewaschene Jeans, ihre Lieblingsjeans aus New York. Sie zog sie an und suchte weiter, bis sie einen ihrer alten Pullis fand. Erich hatte gewollt, daß sie alles verschenkte. Aber ein paar Sachen hatte sie unbedingt behalten wollen. Sie mußte jetzt etwas tragen, was ihr gehörte, etwas, das sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte. Sie erinnerte sich, wie unmöglich angezogen sie sich an dem Tag vorgekommen war, an dem sie Erich kennengelernt hatte. Sie hatte den billigen Pulli angehabt, den Kevin ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und Nanas goldenes Medaillon.
Mit jenem Schmuck, dem einzigen, den sie besaß, und den beiden Mädchen war sie hergekommen. Jetzt hatte sie Nanas Medaillon nicht mehr, und Erich hatte die Mädchen.
Jenny starrte auf die dunklen Eichendielen. Dort lag etwas Schimmerndes, genau vor dem Wandschrank. Sie bückte sich und nahm es auf. Es war ein kleines Stück Nerz. Sie riß die Schranktür auf. Der Nerzmantel war halb vom Bügel gerutscht. Ein Ärmel baumelte in Saumhöhe. Was war denn los? Jenny faßte hin, um den Mantel auf den Bügel zu ziehen, zuckte dann zurück. Ihre Finger waren an der Kragenlinie unter den Pelz bis zur Innenschicht gedrungen. Pelzfetzen hafteten an ihrer Hand.
Der Mantel war völlig zerschlitzt.
Um zehn Uhr ging sie zum Büro hinüber. Clyde saß an dem großen Schreibtisch, an dem Platz, den sonst nur Erich benutzte. »Ich übernehme ihn jedesmal, wenn Erich länger fort ist. Dann hab’ ich alles besser zur Hand.« Clyde sah auf einmal älter aus. Die Falten unter seinen Augen waren tiefer. Sie wartete darauf, daß er erklärte, warum er mitten in der Nacht zum Haus hinaufgestarrt hatte. Aber er sagte nichts.
»Wie lange will Erich fortbleiben?« fragte sie schließlich.
»Er hat nichts Genaues gesagt, Mrs. Krueger.«
»Clyde, warum waren Sie gestern nacht draußen im Hof?«
»Sie haben mich gesehen?«
»Ja, natürlich.«
»Dann haben Sie sie auch gesehen?«
»Sie?«
Clyde platzte heraus: »Mrs. Krueger, vielleicht ist Rooney doch nicht so krank. Sie wissen, was ich meine
— daß sie Caroline so oft sieht. Ich konnte gestern nacht nicht schlafen. Ich dachte daran, daß sie Rooney immer nur für ein paar Tage hintereinander nach Haus lassen wollen, und fragte mich dauernd, ob ich auch das Richtige für sie tue… Jedenfalls bin ich dann aufgestanden. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber von unserem Fenster aus kann man ein Stück vom Friedhof sehen. Nun, ich sah, wie sich dort etwas bewegte. Und ich bin nach draußen gegangen.«
Clyde wurde totenbleich. »Mrs. Krueger, ich habe Caroline gesehen! Genau wie Rooney gesagt hat. Sie ging vom Friedhof zum Haus. Ich bin ihr gefolgt. Die Haare, das Cape, das sie immer anhatte. Sie ging zur Hintertür hinein. Ich wollte dann ebenfalls hinein, aber die Tür war zugeschlossen. Ich hatte meine Schlüssel nicht dabei. Ich bin auf und ab gegangen und hab’ einfach gewartet. Nach einer Weile ging das Licht im großen Schlafzimmer an, dann das Licht in Erichs altem Zimmer. Dann kam sie ans Fenster und sah hinaus und winkte mir zu.«
»Clyde, ich war am Fenster. Ich habe gewinkt.«
»O Jesus«, flüsterte er. »Rooney hat behauptet, sie sieht Caroline. Tina hat gesagt, es ist die Dame auf dem Bild gewesen. Ich denke, ich gehe hinter Caroline her. O
Jesus …« Er starrte sie entsetzt an. »Und wir alle haben niemand anders als Sie gesehen. Genau wie Erich gesagt hat…«
»Nein, nein, so war es nicht«, protestierte sie. »Ich bin nach oben gegangen, weil ich jemanden herumgehen hörte.« Vor Schreck und Empörung über sein ungläubiges Gesicht hielt sie inne. Sie drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief zum Haus zurück. Hatte Clyde recht? War sie zum Friedhof gegangen und dann wieder zurück? Sie hatte von dem Baby geträumt. Und vorhin hatte sie gedacht, wie sehr sie die Sachen haßte, die Erich ihr gekauft hatte. Hatte sie das auch geträumt, und hatte sie dann den Mantel zerschnitten? Vielleicht hatte sie gar niemanden gehört. Vielleicht war sie im Schlaf herumgelaufen und oben aufgewacht.
Sie war die Frau, die Tina gesehen hatte, die Frau auf dem
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