Schrei in der Nacht
Bild.
Sie machte Kaffee und trank ihn brühheiß. Sie hatte seit gestern morgen nichts gegessen. Sie toastete ein Brötchen und zwang sich, ein paar Bissen davon hinunterzuwürgen.
Ihre Gedanken rasten: Clyde wird den Ärzten sagen, daß er die Frau gesehen hat, die er erst für Caroline gehalten hat, daß er ihr bis zum Haus gefolgt ist, und er wird erklären, ich hätte zugegeben, daß ich ihm zugewinkt habe.
Aber Erich würde zurückkommen und ihr helfen. Sie würde jenen Brief schreiben, und Erich würde ihr helfen.
Sie saß einige Stunden am Küchentisch, ging dann zum Sekretär und holte die Schachtel Schreibpapier aus der Schublade. Langsam schrieb sie, versuchte, sich an den genauen Wortlaut dessen zu erinnern, was Erich diktiert hatte. Sie würde auch die letzte Nacht einbeziehen. Sie schrieb: »Und gestern nacht muß ich auch im Schlaf herumgelaufen sein. Clyde hat mich gesehen. Ich ging vom Friedhof zum Haus. Ich nehme an, ich war vorher beim Grab des Babys. Ich wachte im Schlafzimmer auf und sah Clyde vom Fenster aus. Ich winkte ihm zu.«
Clyde hatte im Hof gestanden, draußen im verharschten Schnee.
Der Schnee.
Sie hatte nur ihre dicken Wollsocken angehabt. Wenn sie draußen gewesen wäre, hätte sie klitschnasse Füße bekommen müssen. Die Stiefel, die sie auf der Reise hatte anziehen wollen, standen noch frisch geputzt neben dem Sofa. Sie waren nicht im Freien getragen worden.
Womöglich hatte sie sich den kalten Luftzug und die Schritte nur eingebildet, und vielleicht war ihr nicht bewußt, daß sie im Schlaf herumgelaufen war. Wenn sie aber wirklich auf dem Friedhof gewesen wäre, hätte sie nasse Füße bekommen müssen, und die Wollsocken wären jetzt verschmutzt.
Langsam zerriß sie den Brief, zerriß ihn in viele kleine Fetzen. Ruhig sah sie zu, wie die Fetzen durch die Küche segelten. Zum erstenmal, seit Erich mit den Mädchen fortgefahren war, begann das lähmende Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu schwinden.
Sie war nicht draußen gewesen! Aber Rooney hatte Caroline gesehen. Tina hatte sie gesehen. Clyde hatte sie gesehen. Sie, Jenny, hatte sie gestern nacht oben gehört.
Caroline hatte den Nerzmantel zerschnitten. Vielleicht war sie zornig auf sie, weil sie Erich so viel Ungelegenheiten bereitete. Vielleicht war sie noch oben.
Sie war zurückgekommen.
Jenny stand auf. »Caroline«, rief sie. »Caroline!« Sie hörte, wie ihre Stimme höher wurde. Vielleicht konnte Caroline sie nicht hören. Langsam, Stufe für Stufe, ging sie die Treppe hoch. Im großen Schlafzimmer war niemand. Sie nahm den leichten Fichtennadelgeruch wahr, der immer im Raum hing. Wenn sie einige Stücke Fichtennadelseife verteilte, würde Caroline sich vielleicht mehr zu Haus fühlen. Sie langte in die Kristallschale, holte drei von den kleinen Stücken heraus und legte sie auf das Kopfkissen.
Der Dachboden. Vielleicht war sie auf dem Dachboden. Dorthin konnte sie gestern nacht gegangen sein. »Caroline«, rief Jenny und bemühte sich, einschmeichelnd zu klingen. »Haben Sie keine Angst vor mir. Kommen Sie bitte, sie müssen mir helfen, meine Mädchen wiederzubekommen.«
Auf dem Speicher war es beinahe dunkel. Sie schritt hin und her. Carolines Kosmetikkoffer mit dem Terminkalender und ihrem Flugticket. Wo war das übrige Gepäck? Warum kam Caroline immer wieder zum Haus zurück? Sie hatte zuletzt doch nur noch den Gedanken gehabt, es für immer zu verlassen.
»Caroline«, rief Jenny leise. »Sagen Sie bitte etwas.«
Das Korbbettchen stand, nun mit einem Laken bedeckt, in der Ecke. Jenny ging hin, berührte es zärtlich, fing an, es sanft zu schaukeln. »Mein kleiner Liebling«, flüsterte sie. »Oh, mein kleiner Liebling.«
Etwas rutschte über das Laken, etwas rutschte auf ihre Hand zu. Eine dünne Goldkette, ein herzförmiger Anhänger aus Filigran, wie gesponnene Goldfäden, der Diamant in der Mitte blitzte im Halbdunkel.
Jenny schloß die Hand über Nanas Medaillon.
»Nana.« Den Namen laut zu sagen, war wie ein Guß eiskalten Wassers. Was würde Nana von ihr denken, wenn sie wüßte, daß sie hier stand und versuchte, mit einer Toten zu reden?
Der Speicher wirkte wie ein Verlies. Sie umklammerte das Medaillon und rannte hinunter in den ersten Stock, ins Erdgeschoß, in die Küche. Ich werde verrückt, dachte sie. Hatte sie allen Ernstes versucht, mit Caroline zu sprechen? Sie war entsetzt über sich selbst.
Jetzt mußte sie sich überlegen, was Nana ihr raten würde.
Bei einer Tasse Tee sieht
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