Schrei in der Nacht
welche Zeit kann ich ihn am besten erreichen?«
»Er hat von fünf bis sieben Praxis.«
Sie würde ihn sofort danach zu Hause anrufen.
Sie ging zum Büro hinüber. Clyde schloß gerade den Schreibtisch ab. Zwischen ihnen war nun eine spürbare Wachsamkeit, etwas Gezwungenes. »Wie geht es Rooney?« fragte sie.
»Ich hole sie morgen aus der Klinik nach Haus. Wenn ich Sie um eines bitten darf, Mrs. Krueger… Es wäre mir lieb, wenn Sie sich von ihr fernhielten. Ich meine, laden Sie sie bitte nicht hierher ein, und besuchen Sie sie nicht.« Er sah bekümmert drein. »Dr. Philstrom hat gesagt, wenn Rooney in eine Streß-Situation kommt, kann sie einen Rückfall haben.«
»Und diese Streß-Situation bin ich?«
»Ich weiß nur, daß sie Caroline im Krankenhaus nicht gesehen hat.«
»Clyde, würden Sie mir bitte etwas Geld geben, ehe Sie den Schreibtisch abschließen? Erich ist so plötzlich abgereist, daß ich nur noch ein paar Dollar habe, und ich muß einige Dinge besorgen. Und noch etwas: Ich muß morgen in die Stadt, dürfte ich Ihren Wagen nehmen?«
Clyde drehte den Schlüssel um, zog ihn heraus und steckte ihn in die Tasche. »Tut mir leid, aber Erich hat ausdrücklich gesagt, daß ich Ihnen den Wagen nicht geben soll, und wenn Sie etwas brauchen, sollen sie es mir sagen, und ich besorge es. Aber ich soll Ihnen auf keinen Fall Geld geben. Er hat gesagt, es würde mich meine Stelle kosten, wenn ich Ihnen auch nur zehn Cents aus der Farmkasse gebe oder ihnen etwas von meinem eigenen Geld leihe.«
Etwas in ihrem Gesicht veranlaßte ihn, einen freundlicheren Ton anzuschlagen. »Mrs. Krueger, ich kann nichts dafür. Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn sie etwas brauchen.«
»Ich brauche…« Sie biß sich auf die Lippen, drehte sich um und rannte aus dem Büro. Mit Tränen der Demütigung und Wut in den Augen lief sie blindlings den Weg entlang.
Die Spätnachmittagsschatten breiteten sich wie Vorhänge auf den blaßroten Backsteinen des Hauses aus.
Am Waldrand hob sich das satte Grün der Kiefern von den kahlen Zweigen der Ahornbäume und Birken ab. Die hinter schweren, fast schwarzen Wolken versteckte Sonne schickte diffuse Lichtstreifen über den Horizont, tauchte den Himmel in malvenfarbene, rosa- und sattrote Töne von kalter Schönheit.
Ein Winterhimmel. Ein Winterland. Es war ihr Gefängnis geworden. Um acht nach sieben griff Jenny zum Hörer, um Mark anzurufen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Sie nahm hastig ab. »Hallo.«
»Jenny, du mußt neben dem Telefon gesessen haben.
Wartest du auf einen Anruf?« Wieder jener ironische Unterton in Erichs Stimme.
Sie fühlte, wie ihre Handflächen feucht wurden.
Unwillkürlich umklammerte sie den Hörer. »Ich hoffte, du würdest anrufen.« Klang sie natürlich? Merkte man, daß sie nervös war? »Wie geht es den Mädchen?«
»Natürlich gut. Was hast du heute gemacht?«
»Nicht viel. Jetzt, wo Elsa nicht mehr kommt, habe ich mehr im Haus zu tun. Es gefällt mir.« Sie schloß die Augen, überlegte genau, was sie sagte, fügte in nebensächlichem Ton hinzu: »Oh, ich habe Joe gesehen.«
Sie redete schnell weiter, da sie nicht lügen wollte und da sie auch nicht zugeben wollte, daß sie von sich aus zu den Ekers’ gegangen war. »Er freut sich sehr, daß du ihn wieder eingestellt hast, Erich.«
»Ich nehme an, er hat dir den Rest des Gesprächs erzählt, das ich mit ihm hatte?«
»Was meinst du?«
»Ich meine diese verdrehte Geschichte, daß er gesehen hat, wie du in das Auto gestiegen bist, und dann auf einmal zu dem Schluß gekommen ist, daß du es gar nicht warst. Du hast mir gegenüber nie zugegeben, daß Joe dir sagte, er habe dich an jenem Abend in das Auto steigen sehen. Ich dachte immer, daß nur Rooney dich dabei beobachtet hat.«
»Aber Joe hat gesagt… Er hat mir gesagt, er hätte es dir erzählt. Er ist sicher, daß jemand anders meinen Mantel anhatte.«
»Jen, hast du den Brief geschrieben?«
»Erich, verstehst du denn nicht, daß wir jetzt einen Zeugen haben, der beschwört…«
»Du meinst, wir haben einen Zeugen, der sicher war, dich gesehen zu haben, und der nun bereit ist, etwas anderes zu erzählen, um sich bei mir lieb Kind zu machen und seine Stelle wiederzubekommen? Jenny, hör endlich auf, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.
Entweder du schreibst den Brief und liest ihn mir vor, wenn ich wieder anrufe, oder du kannst dich darauf gefaßt machen, daß du die Mädchen erst wiedersehen wirst, wenn sie erwachsen
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