Schrei in der Nacht
in seiner Stimme zu hören und fragte sich, ob er wohl an seine Tochter dachte. Sie folgerte, daß es in der Tat so war, denn er fügte hinzu: »Meine Frau ist ganz selig, daß Sie und die Kinder da sind. Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn sie anfängt, Sie hier zu behelligen. Rooney meint es nicht so, aber manchmal fällt sie den Leuten schrecklich auf den Wecker.«
Jenny kam es vor, als habe seine Stimme einen defensiven Unterton, als er von Rooney sprach. »Ich war gern bei ihr zu Besuch«, sagte sie aufrichtig.
Er wurde auf einmal verbindlicher. »Das freut mich zu hören. Sie sucht übrigens Muster heraus, um Jumper oder so was für Ihre Mädchen zu machen. Haben Sie auch nichts dagegen?«
»Aber warum denn?«
Als sie das Büro verlassen hatten, sagte Erich: »Um Gottes willen, Jenny, du darfst Rooney nicht ermutigen.«
»Ich verspreche, daß ich die Kontrolle behalten werde.
Sie ist doch nur einsam!«
Nach dem Essen, während die Kinder ihren Mittagsschlaf hielten, schnallten sich Jenny und Erich gewöhnlich die Langlaufskier an und erkundeten die Farm. Elsa hatte sich bereiterklärt, in dieser Zeit auf die Kinder zu achten. Sie hatte es sogar von sich aus angeboten. Jenny hatte den Verdacht, sie wollte verlorenen Boden wettmachen, weil Erich sie beschuldigt hatte, die Eßzimmertapete beschädigt zu haben.
Nichtsdestoweniger fragte sich Jenny, ob es nicht doch möglich war, daß er den Fleck gemacht hatte. Wenn er zum Essen heimkam, hatte er oft noch Farbe oder Kohlespuren an den Händen. Wenn er sah, daß etwas nicht ganz genau so war, wie es sein sollte — etwa daß sich die Vorhänge nicht exakt in der Mitte teilten oder irgendein Gegenstand nicht genau am üblichen Platz stand —, brachte er es automatisch in Ordnung.
Das Zimmer war inzwischen neu tapeziert worden. Als der Tapezierer und sein Geselle kamen, konnten sie es nicht fassen. »Sie meinen, er hat acht Doppelrollen zu diesem Preis gekauft, und er will genau dieselbe Tapete überkleben, obgleich sie noch wie neu ist?«
»Mein Mann weiß, was er will.«
Als sie fertig waren, sah das Zimmer exakt so aus wie vorher, nur daß der Fleck verschwunden war.
Abends saßen Jenny und Erich gern in der Bibliothek und lasen, hörten Musik, unterhielten sich. Er fragte nach der feinen Narbe unter ihrem Haaransatz. »Ein Autounfall, als ich sechzehn war. Jemand mißachtete die Trennungslinie und raste in uns hinein.«
»Du mußt furchtbare Angst gehabt haben, Liebling?«
»Ich erinnere mich nicht mal daran«, sagte sie lachend.
»Ich hatte mich gerade nach hinten gelehnt und war eingeschlafen. Als ich drei Tage später aufwachte, lag ich im Krankenhaus. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung, so schlimm, daß ich mich an nichts mehr erinnern konnte. Gedächtnisverlust. Nana war außer sich. Sie war sicher, ich hätte einen bleibenden Gehirnschaden oder etwas Ähnliches erlitten. Ich hatte allerdings öfters Kopfschmerzen und bin vor der Schulschlußprüfung sogar ein paarmal schlafgewandelt. Der Arzt sagte, es liege am Streß. Aber allmählich hörte es dann auf.«
Erich erzählte vom Unfall seiner Mutter, zuerst stockend, aber dann sprudelten die Worte hervor.
»Caroline und ich waren in den Kuhstall gegangen, um uns ein neues Kalb anzusehen. Es wurde gesäugt, und Caroline hielt ihm die Flasche ans Maul. Der Wassertank
— das große Ding im Kälberstall, das wie eine Badewanne aussieht — war voll. Der Boden war mit Kälbermist bedeckt, und Caroline glitt aus. Sie wollte sich an etwas festhalten, um nicht zu fallen. Sie erwischte das Kabel der Lampe. Sie fiel in den Tank und riß die Lampe mit sich. Der verdammte Handwerker, übrigens Joes Onkel, legte gerade neue Leitungen im Stall und hatte die Lampe an einem Nagel in der Wand hängen lassen. In einer Minute war alles vorbei.«
»Ich wußte gar nicht, daß du dabei warst.«
»Ich rede nicht gern darüber. Luke Garrett, Marks Vater, war gerade hier. Er versuchte, sie zu retten, aber es war hoffnungslos. Und ich stand da und hielt den Hockeyschläger, den sie mir gerade zum Geburtstag geschenkt hatte…«
Jenny saß auf dem Fußkissen vor Erichs bequemem Ledersessel. Sie hob seine Hände an ihre Lippen. Er beugte sich nach unten, zog sie hoch und drückte sie fest an sich. »Ich habe den Anblick dieses Hockeyschlägers lange Zeit nicht ertragen können. Dann fing ich an, ihn als das zu sehen, was er wirklich war, das letzte, was sie mir geschenkt hatte.« Er küßte sie auf die
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