Schrei in der Nacht
Augenlider.
»Schau nicht so traurig, Jenny. Dich zu haben, entschädigt mich für alles. Jenny, bitte, versprich mir…«
Sie wußte, was er hören wollte. Mit überströmender Zärtlichkeit flüsterte sie: »Ich werde dich nie verlassen.«
10
Als sie an einem der nächsten Tage morgens mit Tina und Beth spazierenging, entdeckte sie Rooney, die sich über den Lattenzaun am Südende des Friedhofs lehnte.
Sie schien Carolines Grab zu betrachten.
»Ich habe gerade daran gedacht, wieviel Spaß ich hatte, als Caroline und ich jung waren und als Erich klein war und als Arden dann kam. Caroline hatte Arden einmal gezeichnet. Das Bild war so wunderbar. Ich weiß nicht, was damit passiert ist. Es verschwand eines Tages einfach aus meinem Zimmer.
Clyde sagt, ich hätte es wahrscheinlich mitgenommen, was ich manchmal getan habe, und dann irgendwo liegengelassen. Warum haben Sie mich nicht wieder mal besucht?«
Jenny hatte sich für die Frage gewappnet. »Wir haben so furchtbar viel um die Ohren gehabt, bis wir uns einigermaßen eingelebt hatten. Beth, Tina, wollt ihr Mrs.
Toomis nicht guten Tag sagen?«
Beth sagte schüchtern: »Morgen.« Tina lief zum Zaun und hob das Gesicht, um sich einen Kuß geben zu lassen.
Rooney beugte sich hinunter und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Sie erinnert mich an Arden, die Kleine.
Keinen Moment still. Wahrscheinlich hat Erich Ihnen verboten, zu mir zu kommen. Na ja, ich nehme es ihm nicht übel. Ich schätze, ich bin manchmal eine furchtbare Nervensäge. Aber ich habe das Schnittmuster gefunden, das ich gesucht habe. Darf ich die Jumper für die Mädchen machen?«
»Das wäre sehr schön«, sagte Jenny, die inzwischen zu dem Schluß gekommen war, Erich werde sich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß sie sich ein wenig mit der Frau anfreundete. Rooney hatte etwas sehr Sympathisches.
Rooney drehte sich wieder zum Friedhof hin. »Fühlen Sie sich nicht schon etwas einsam hier?« fragte sie.
»Nein«, antwortete Jenny aufrichtig. »Es ist natürlich anders als in New York. Ich hatte einen sehr interessanten Job und mußte den ganzen Tag mit allen möglichen Leuten reden, und dauernd ging das Telefon, und abends kamen fast immer Freunde zu Besuch.
Manchmal fehlt mir das alles schon. Aber meist bin ich einfach froh, daß ich jetzt hier bin.«
»Caroline war genauso«, sagte Rooney. »Glücklich und zufrieden, jedenfalls eine zeitlang. Dann änderte es sich.« Sie starrte auf den schlichten Stein hinter dem Zaun. Kleine Schneewolken standen am Himmel, und die Kiefern warfen unruhige Schatten auf den Granit, der in der Morgensonne blaßrosa schimmerte. »O ja, für Caroline änderte es sich«, flüsterte sie. »Und als sie fort war, änderte es sich für uns alle.«
»Du willst mich nur loswerden«, protestierte Erich. »Ich möchte aber nicht gehen.«
»Natürlich will ich dich loswerden«, bekräftigte Jenny.
»Oh, wie schön es ist, Erich, absolut meisterhaft.« Sie hielt ein winziges, etwa acht mal zehn Zentimeter großes Ölbild hoch, um es genauer zu betrachten. »Du hast den feinen Dunstschleier getroffen, den die Bäume kurz vor dem Knospen bekommen. Und dieser dunkle Ring um das Eis im Fluß. Er zeigt, daß das Eis bald aufbrechen wird, daß das Wasser darunter fließt, nicht wahr?«
»Du hast ein gutes Auge, Liebling. Ja, es stimmt.«
»Du scheinst zu vergessen, daß ich Kunst studiert habe. ›Wechsel der Jahreszeiten‹ ist ein guter Titel. Man spürt die Veränderung, den Wechsel auf dem Bild.«
Erich legte ihr einen Arm um die Schultern und betrachtete das Bild mit ihr. »Denk daran, ich werde nichts von dem ausstellen, was du gerne hierbehalten möchtest.«
»Nein, das wäre albern. Du mußt an deinen Ruf denken. Ich hätte nichts dagegen, einmal als die Frau des berühmtesten Malers in den Staaten herumzulaufen. Die Leute zeigen dann auf mich und sagen. ›Hat die nicht Glück gehabt? Außerdem ist er ein umwerfender Typ !‹«
Erich zog sie an den Haaren. »So, das sagen sie also?«
»O ja. Und recht haben sie auch.«
»Ich könnte doch genausogut die Ausstellung absagen.«
»Erich, ich bitte dich, Sie haben schon einen Empfang geplant. Ich wünschte nur, ich könnte mit, aber ich kann die Kinder noch nicht allein lassen, und wenn ich sie mitnehme, wird es eine Strapaze für uns alle. Nächstes Mal.«
Er fing an, die Gemälde zu stapeln. »Versprich, daß ich dir fehlen werde, Jenny.«
»Und wie du mir fehlen wirst. Es wird ganz schön
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