Schrei in der Nacht
sagte Mark.
Rooney hörte es. »Ich hole Ihnen schnell die Stola.«
Bloß nicht die grüne, dachte Jenny, bitte nicht die, mit der ich ihn an mir gewärmt habe. Aber Rooney legte sie ihr schon sorgsam um die Schultern.
Lukes Blick war auf sie geheftet. Sie wußte, warum.
Sie versuchte, die Stola abzuschütteln.
Erich hatte Tina und Beth erlaubt, ihre neuen Puppenbettchen mit ins Wohnzimmer zu bringen, damit sie Gesellschaft hatten. Sie sahen verängstigt aus.
Beth sagte: »Sieh mal, Mami, so deckt der liebe Gott unser Brüderchen im Himmel zu.« Liebevoll zog sie ihrer Babypuppe die Decke unter das Kinn.
Im Raum herrschte tiefe Stille.
Dann Tinas Stimme, hoch und klar: »Und so hat ihn die Frau da« — sie zeigte auf das Gemälde — »in der Nacht zugedeckt, als ihn der liebe Gott geholt hat.«
Langsam, sehr überlegt öffnete sie die Hände und drückte sie ihrer Puppe aufs Gesicht.
Jenny hörte ein heiseres, stockendes Stöhnen. War es aus ihrem eigenen Mund gekommen? Alle starrten jetzt auf das Bild, und dann fuhren die Köpfe wie in einer einzigen Bewegung herum, und sie fühlte, wie sie von fassungslosen, fragenden Blicken durchbohrt wurde.
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»O nein, nein.« Rooneys Stimme war getragen, fast wie ein Singsang. »Caroline würde dem Baby nie etwas zuleide tun, Kleines.« Sie lief zu Tina. »Weißt du, Caroline hat Erichs Gesicht immer in die Hände genommen, als er klein war. Schau mal, so!« Zärtlich legte sie die Handflächen an die Wangen der Babypuppe.
»Und dann lachte sie und sagte: ›Caro, caro.‹ Das bedeutet ›mein Lieber‹.«
Rooney richtete sich auf und blickte in die Runde. Ihre Pupillen waren jetzt unnatürlich geweitet. »Jenny, es ist genauso, wie ich Ihnen gesagt habe. Sie ist zurückgekommen. Vielleicht hat sie gewußt, daß das Baby krank war, und wollte helfen.«
Erich sagte sehr leise. »Sie muß hier weg, Clyde.«
Clyde nahm Rooneys Arm. »Komm. Und halt den Mund.«
Rooney wehrte sich. »Jenny, sagen Sie ihnen, daß ich Caroline gesehen habe. Sagen Sie, daß ich es Ihnen erzählt habe. Und daß ich nicht verrückt bin.«
Jenny versuchte aufzustehen. Man konnte sehen, daß Clyde seiner Frau weh tat. Seine Finger gruben sich in den mageren Arm. Aber Jennys Beine wollten sie nicht tragen. Sie wollte sprechen, aber kein Wort kam. Tinas kleine Hände auf dem Mund und der Nase der Puppe…
Luke war es schließlich, der Rooney von Clyde gewaltsamem Griff befreite. »Lassen Sie sie los, Mann.
Sehen Sie denn nicht, daß dies alles zuviel für sie ist?«
Sein Ton wurde beruhigend: »Rooney, warum gehen Sie nicht nach Haus und legen sich hin? Es ist ein schrecklicher Tag für Sie gewesen.«
Rooney schien nicht zu hören. »Ich habe sie doch immer wieder gesehen. Manchmal komme ich nachts her, wenn Clyde schon schläft, weil ich so gern mit ihr reden würde. Ich wette, daß sie weiß, wo Arden ist. Und ich seh’ doch, wenn sie ins Haus geht. Neulich habe ich sie im Zimmer des Babys am Fenster gesehen. Der Mond schien auf sie, und ich sah sie so deutlich wie am hellichten Tag. Wenn sie nur mit mir reden würde!
Vielleicht denkt sie, ich habe Angst vor ihr. Aber warum sollte ich denn? Wenn Caroline hier ist, bedeutet das, daß Arden vielleicht auch zurückkommt, selbst wenn sie tot ist. Stimmt das nicht?«
Sie lief zu Jenny, kniete sich auf den Boden und legte die Arme um sie. »Und dann kommt das Baby vielleicht auch wieder. Wäre das nicht schön? Jenny, darf ich ihn halten, wenn er wiederkommt?«
Es war kurz vor zwei. Ihre Brüste waren schwer vor Milch. Dr. Elmendorf hatte sie ihr zurückgebunden, um die Milchentstehung zu drosseln, aber wenn die Stunden kamen, zu denen sie den Kleinen gestillt hatte, füllten sich die Brüste wieder. Es tat weh, aber sie war richtig froh über den physischen Schmerz. Er war ein Gegengewicht zu ihrem qualvollen Kummer. Rooney zitterte am ganzen Körper. Jenny legte die Arme um die zerbrechliche Frau. »Er kommt nicht zurück, Rooney«, sagte sie. »Und Caroline und Arden auch nicht. Tina hat geträumt.«
»Natürlich hat sie geträumt«, sagte Mark brüsk.
Luke und Clyde richteten Rooney auf. »Sie braucht etwas zur Beruhigung«, sagte Luke. »Ich fahre mit euch zum Krankenhaus.« Er sah selbst elend aus.
Emily und Mark blieben noch etwas länger. Emily machte ein paar halbherzige Versuche, mit Erich über seine Arbeit zu reden.
»Ich habe im Februar eine Ausstellung in Houston«, erzählte Erich ihr. »Ich werde Jenny und die
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