Schrei in der Nacht
lassen Sie ihn am besten durchschlafen.«
Als sie das Baby um zehn Uhr gestillt hatte, rollte sie das Korbbettchen zurück. »Ich werde leider wieder allein schlafen müssen, Pummel«, sagte sie. »Aber ich freue mich wahnsinnig, daß du es geschafft hast.«
Die kleinen, nun ganz dunkelblauen Augen blickten unter langen, schwarzen Wimpern ernst zu ihr hoch. Der neue blonde Flaum schimmerte golden durch die ersten, dunklen Haare durch. »Weißt du, daß du schon acht Wochen alt bist?« fragte sie. »Was für ein großer Junge!«
Sie schnürte das Zugband des langen Nachthemds zu.
»Jetzt kannst du strampeln, soviel du willst«, sagte sie lächelnd. »Du wirst es trotzdem nicht schaffen, dich bloßzustrampeln.«
Sie hielt ihn eine ganze Weile an sich gedrückt und genoß den zarten Babypuderduft. »Du riechst so gut«, flüsterte sie. »Gute Nacht, Pummel.«
Sie ließ die Schiebetür nur einen Spalt weit offen und ging zu Bett. In wenigen Stunden würde das neue Jahr beginnen. Heute vor einem Jahr war Fran mit ein paar anderen Leuten aus dem Haus vorbeigekommen. Sie hatten gewußt, daß es Jenny nicht gutgehen konnte; es war das erste Silvester ohne Nana.
Fran hatte über Nana gescherzt. »Wahrscheinlich erschreckt sie jetzt die Typen im Himmel mit Knallfröschen.«
Sie hatten gelacht. »Es wird bestimmt ein gutes Jahr für dich, Jen«, hatte Fran gesagt. »Ich spüre es in den Knochen.«
Ein gutes Jahr! Wenn sie endlich wieder in New York war, würde sie Fran raten, sich an den Knochen untersuchen zu lassen. Sie sandten die falschen Signale aus.
Aber das Baby! Es ließ alles andere, was in diesem Jahr passiert war, unwichtig erscheinen. Ich nehme alles zurück, sagte sie schnell. Es war ein gutes Jahr.
Als sie aufwachte, fielen Sonnenstrahlen ins Zimmer, ein klares, kaltes Licht, das einen eisigen Tag ankündigte.
Die Porzellanuhr auf dem Nachttisch zeigte fünf vor acht.
Der Kleine hatte durchgeschlafen und seine Sechs-Uhr-Mahlzeit verpaßt. Sie sprang aus dem Bett, schob die Tür ganz auf und lief zum Korbbettchen.
Die langen Wimpern warfen friedliche Schatten auf die blassen Wangen. Neben der winzigen Nase hob sich eine blaue Ader von der durchscheinenden Haut ab. Der Kleine hatte die Arme nach oben geworfen und die Finger gespreizt, so daß die Hände wie kleine Sterne aussahen.
Er atmete nicht.
Hinterher wußte sie nur noch, wie sie geschrien hatte, und mit dem Baby auf dem Arm, so wie sie war, barfuß und im Nachthemd, durch den Schnee zum Büro gerannt war. Erich, Clyde, Luke und Mark waren da, Mark nahm ihr den Kleinen sofort ab und legte den Mund an die winzigen Lippen.
»Krippentod, Mrs. Krueger«, sagte dann Dr. Bovitch.
»Er war ein sehr krankes Kind. Ich weiß nicht, wie er die Operation hätte überstehen können. Dies ist so viel leichter für ihn.«
Rooney jammerte immer wieder: »O nein, o nein!«
»Unser kleiner Junge«, schluchzte Erich. Mein kleiner Junge, dachte Jenny stolz — du hast ihm sogar deinen Namen verweigert.
»Warum hat ihn der liebe Gott in den Himmel geholt?«
fragten Tina und Beth.
Ja, warum.
»Ich möchte ihn gern bei deiner Mutter beisetzen, Erich«, sagte Jenny. »Dann wäre er nicht so allein.« Ihre Arme schmerzten und fühlten sich leer an.
»Tut mir leid, Jenny«, antwortete er entschieden. »Ich kann Carolines Ruhe nicht stören.«
Nach einer Kindertotenmesse wurde Kevin MacPartland-Krueger neben den drei Babys begraben, die in früheren Generationen gestorben waren. Jenny sah mit tränenlosen Augen zu, wie man den kleinen Sarg in die Erde senkte. Damals an ihrem ersten Morgen auf der Farm hatte sie diese Grabsteine betrachtet und sich gefragt, wie man es nur ertragen könnte, ein Kind zu verlieren.
Nun mußte sie es selbst ertragen.
Sie fing an zu weinen. Erich legte den Arm um sie. Sie schüttelte ihn ab.
Hintereinander gingen sie zum Haus zurück: Mark, Luke, Clyde, Emily, Rooney, Erich, sie selbst. Es war so kalt. Elsa erwartete sie drinnen mit Sandwiches. Sie hatte verweinte und geschwollene Augen. Also hat sie doch Gefühle, dachte Jenny, und gleich darauf schämte sie sich.
Erich führte sie alle ins große Wohnzimmer. Mark war an Jennys Seite. »Trinken Sie das, Jenny. Es wird Sie aufwärmen.« Der Cognac brannte in der Kehle. Seit den ersten Anzeichen der Schwangerschaft hatte sie keinen Alkohol mehr angerührt. Jetzt war es egal.
Benommen setzte sie sich, trank den Cognac langsam aus. Sie konnte kaum schlucken.
»Sie zittern ja«,
Weitere Kostenlose Bücher