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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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bereits – die Amerikaner sind ein Volk der Extreme. Ich finde es seltsam, dass dies nie eingestanden, geschweige denn erörtert wird. Eine Art nationales »Image« oder eine ganze Reihe solcher Images stehen dem im Wege. Der arme Junge, der Präsident werden kann … junge Menschen aus ärmlichen Verhältnissen, die sich ihren Weg durchs College erarbeiten, um dann reich und berühmt zu werden … ein Huhn in jedem Topf (ein abgenutztes Symbol für Überfluss) … Jefferson, Lincoln und all das; aber es ist ein Land, das sich leicht infiziert und dann hohes Fieber hat. Wenn wir über die »gemeinsame Sprache« – das Englische – als eine Barriere reden, weil einige – aber nicht viele – Worte einen anderen Sinn haben, dann ist das an sich schon eine weitere Barriere, die die Wahrheit verschleiert, nämlich dass die Barriere aus nationalen Temperamenten oder Veranlagungen besteht. Jetzt, während ich dies schreibe, darf der Gedanke, dass es nationale Temperamente oder Eigenschaften geben könnte, in den Vereinigten Staaten wegen der derzeit herrschenden Political Correctness nicht offen ausgesprochen werden. Ein weiterer Beweis für meine Ansicht.
    Die amerikanischen Kommunisten waren in stärkerem Maße kommunistisch, fanatisch, der Parteilinie ergeben und paranoid als irgendjemand, den ich in Großbritannien kannte. Sie produzierten mehr von dem, was die Kommunistische Partei selbst »die Hundertfünfzigprozentigen« nannte – und das keineswegs bewundernd, denn sie wusste, dass übersteigerte Kommunisten leicht ins andere Extrem verfielen und zu Kommunistenhassern wurden. Kein britischer Kommunist hatte je die Grausamkeit erfahren, mit der die amerikanische Regierung Paul Robeson und einige andere amerikanische Kommunisten verfolgte.
     
    Und nun tritt Clancy Sigal auf, als käme er direkt aus der Dekoration eines Films. Ganz im Stil der jungen Amerikaner von damals, Jeans, Sweatshirt, tief sitzender Gürtel, bei dem man nicht umhinkonnte, sich einen unsichtbaren Revolver vorzustellen. Ganz der einsame Außenseiter. Ganz der Sheriff, der allein gegen eine Bande von Bösewichtern kämpft.
    Jemand hatte mich angerufen und mir gesagt, dieser Amerikaner sei in der Stadt, er brauche eine Unterkunft, ob ich ihm ein Zimmer vermieten könne. Ich sagte, meine bisherigen Erfahrungen als Zimmervermieterin hätten mich nicht gerade dazu ermutigt, es noch einmal zu versuchen. Genosse Soundso sagte, ob ich mich nicht schäme, einem Genossen nicht helfen zu wollen, wenn ich doch ein leeres Zimmer hätte.
    Clancy hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Amerikanern, die ich bisher kennengelernt hatte, von denen die meisten Verleger oder Filmleute gewesen waren. Die waren damals formell, korrekt, mit hinten und an den Seiten kurzgeschnittenem Haar, und benahmen sich, als steckten sie in einer unsichtbaren Rüstung. Sie achteten darauf, was sie sagten. Sie redeten langsam. Der Ausdruck »steife Oberlippe« hätte eigens zur Beschreibung dieser Amerikaner geprägt worden sein können, insbesondere der Männer, denn es sah so aus, als wären ihre Münder mit einem Zauber belegt worden: Sie konnten sie kaum bewegen. Man konnte einen Amerikaner aus hundert Metern Entfernung sehen und an der Haltung der Lippen erkennen, dass es einer war. Lag das an McCarthy? Hatte er sie in eine verkniffene und durchgängige Konformität hineingeängstigt, selbst wenn sie mit linksgerichteter Politik nichts zu tun hatten? Aber wenig später verschwand dieser Typ von Amerikanern, und sie gaben sich alle locker und entspannt – als Stil.
    Clancy war eine heroische Figur, nicht nur wegen der tausend Filmepen, Helden und Heldinnen der Linken, die seine Fantasie beherrschten, sondern auch wegen der großen Gestalten der amerikanischen Geschichte. Er hatte kurz vor seiner Reise nach Europa den für junge Amerikaner obligatorischen Trip unternommen und war ganz allein mit dem Wagen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten gefahren, völlig von Sinnen, und hatte sich mit Abraham Lincoln, Clarence Darrow, Sacco und Vanzetti, Jefferson, Mother Bloor und John Brown ebenso »unterhalten« wie mit Rosa Luxemburg, Speranski, Bucharin, Trotzki und jedem, der sonst noch auftauchte.
    Clancy war ein Spiegelbild dessen, was mir an mir selbst suspekt zu werden begann. Nur begann – und das ist das Problem. Künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Aber wenn man aus der Perspektive dieser Ereignisse zurückblickt, ist es einfach,

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