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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Armlehne liegenden Hand hoch, und das bedeutete, dass da mehr war, als er sagen konnte, er aber Angst hatte vor unsichtbaren Zuhörern: Der KGB hörte alle Zimmer ab, in denen ihre Protegés untergebracht waren.
    Der tägliche Kampf ums Überleben während des Zweiten Weltkriegs, des Großen Vaterländischen Krieges – nun, ich saß da und dachte, dass es für jemanden in Großbritannien nicht leicht war, sich solche Entbehrungen, eine solche Kälte vorzustellen. Später verliebte er sich in eine andere Frau, die in der Eremitage in Leningrad arbeitete, aber er lebte irgendwo außerhalb von Moskau. Es war damals schwierig, eine Reiseerlaubnis zu bekommen, sogar für einen prominenten Schriftsteller, aber manchmal konnte er in den Zug nach Leningrad steigen – Anna Kareninas Zug, erinnerte er mich –, und seine neue Liebe bekam den Tag über frei. Sie hatte die Belagerung von Leningrad überlebt, und sie war sehr dünn und schwach, es ging ihr nicht gut. Dann saßen sie in ihrem Zimmer den ganzen Tag beisammen und redeten oder schwiegen, und dann fuhr er mit dem Zug zurück nach Moskau. Sie brauchten nicht einmal miteinander zu reden, sagte er. Es genügte, dass sie beisammen waren. Auf diese Weise dauerte diese Liebe an, aber dann starb auch sie.
    Er redete auch eine Menge über Politik, über die Zeit unter Stalin. »Ich habe nie jemanden verraten«, erklärte er immer und immer wieder, wobei er die Stimme erhob und wütende Blicke auf das Telefon warf, in dem, davon war er überzeugt, die Wanze des KGB stecken musste. »Wir waren alle gefährdet, jeder Einzelne von uns. Das können Sie, Leute wie Sie im Westen, nicht verstehen. Es gab keine Möglichkeit, zu ihnen Nein zu sagen. Aber wenn ich verhört wurde, habe ich nicht über andere Schriftsteller gesprochen – und genau das wollten sie. Sie wollten uns Angst einjagen, das war der Grund, weshalb sie uns verhörten, auch wenn
er
beschlossen hatte, uns nicht ins Gefängnis zu stecken.«
    Außerdem wollte er mich vor den Gefahren warnen, die die politische Betätigung für Schriftsteller mit sich brachte. »Sie sind noch jung. Ich bin früher auch einmal jung gewesen. In meiner Jugend war ich ein Genie. Ich war ein Bauernjunge. Gorki wurde auf mich aufmerksam. Er sagte, ich sei ein Genie. Er und ich waren uns sehr ähnlich. Wir stammten beide aus armen Familien. Wir liebten es beide, allein durch die Dörfer zu wandern. Er ist durch ganz Russland gewandert, und das habe ich auch getan. Manchmal bin ich monatelang allein gewandert. Die Bauern haben mir zu essen gegeben. Aber später wurde Gorki vernichtet; sie haben ihn umgebracht – und mich ebenfalls, wenn auch auf andere Art. Ich habe mein Leben in Komitees verbracht. Mit ihnen ist mein Genie verflogen. Ich sage jungen Schriftstellern immer, geht nicht in Komitees, sie machen euch fertig. Und das ist es auch, was ich Ihnen sage.«
    »Nicht nötig – das habe ich schon vor langer Zeit begriffen.«
    »Das ist gut. Das ist sehr gut. Aber für Sie ist es leicht. Sie können Nein sagen. Für uns ist es sehr schwer, Nein zu sagen.«
    Er erzählte eine Geschichte, wie er einmal auf einer Landstraße in irgendeiner Provinz unterwegs war, wo Gorki ihn sah, seinen Wagen anhielt und ihn zum Einsteigen aufforderte. »Ich will dir etwas zeigen. Du wirst heute einen wichtigen Mann sehen.« In einem Landhaus fand ein Schriftstellertreffen statt, und Stalin hatte erklärt, dass er vielleicht hereinschauen würde. Er tat es. Er hörte sich ihre Ausführungen an, die alle sehr schmeichelhaft für ihn waren. Dann stand Gorki auf, wendete sich direkt an Stalin und erklärte ihm, dass alles, was gesagt worden sei, nicht stimme. Die Zustände, unter denen die Menschen lebten, seien grauenhaft. Wir säßen da in diesem schönen Haus, aber rings um uns herum litten die Leute, und die Schriftsteller litten gleichfalls. Die Ideen der Partei über Literatur seien falsch und nicht gut für die Schriftsteller.
    »Wir hielten den Atem an«, sagte Marschak. »Wir waren alle bleich vor Entsetzen. Ich zitterte – ich war noch ein sehr junger Mann, und das waren für mich alles große, wichtige Leute, und Gorki behandelte sie, als wären sie ungezogene Kinder. Und noch nie hatte jemand Stalin herausgefordert. Das könnt ihr Leute hier nicht verstehen. Dann stand Stalin auf, ganz langsam, und sagte, er sei froh, dass es hier wenigstens einen ehrlichen Mann gebe – den Genossen Gorki. ›Ihr anderen seid alle Lügner und sagt nur

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