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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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werden.
    Ich stellte fest, dass ich mit dem Trotzkisten Clancy in politischer Hinsicht übereinstimmte, und das zu einer Zeit, als ich der Partei zwar noch angehörte, aber bereits auf Mittel und Wege sann, sie ohne Aufsehen zu verlassen. Das war eindeutig bemerkenswert, denn die offizielle Parteilinie über Trotzki hatte sich nicht geändert. In der Linken verbrachte jedermann eine Menge Zeit damit, intellektuelle Positionen in eigener Sache exakt zu definieren. Eine private, individuelle »Linie« brauchte nicht die Parteilinie zu sein – sie war es nur selten. Clancy und ich verbrachten Stunden mit Diskussionen. Was denkst du über dieses – und jenes? Glaubst du, dass das wahr ist – oder jenes? Es würde eine Revolution kommen müssen – ja,
natürlich
 –, aber es war ausgeschlossen, dass die heutigen kommunistischen Parteien in Großbritannien und den anderen europäischen Ländern sie anführen würden, dazu waren diese zu kompromittiert.
    Clancy hatte aus Instinkt ein intelligentes Verständnis von Frauen, nicht von uns als weiblichen Wesen, sondern von unserer Lage, unseren Problemen. Das lag an den langen, schweren Jahren seiner Mutter, die ihn, sehr arm, ohne Hilfe seines Vaters aufgezogen hatte. Der hatte die Familie verlassen und eine neue gegründet. Frauen reagierten spontan auf ihn. Im
Goldenen Notizbuch
habe ich das »beim Namen nennen« genannt. Er »nannte uns beim Namen«. Jede Frau, der er begegnete, bekam er ins Bett, oder er versuchte es zumindest, das war für ihn eine Sache des Prinzips. Ganz der Stil des
einsamen Wanderers.
Er erzählte mir von seinen Reisen durch Amerika, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, dass er selten eine Nacht allein verbracht habe. Ich glaube nicht, dass diese Frauen schlecht dabei wegkamen, sogar als er krank war, denn wenn er sie am nächsten Morgen verließ, fühlten sie sich unterstützt, schlicht, weil er sie verstanden hatte.
    Ich erinnere mich voller Scham an meine Dummheit, denn als er in mein Bett kam, ich glaube, gleich in der ersten Nacht, in der er sich in meiner Wohnung befand, hatte ich das Gefühl, dass nun die Einsamkeit, in der ich gelebt hatte, seit Jack mich verließ, vorüber sei. Es gibt keine größere Närrin als eine Frau, die einen Mann braucht. Das heißt, einen Mann, den sie haben und festhalten kann.
    Nein, diese Dummheit hielt nicht lange an. Hier war ein weiterer Mann, der kein Hehl daraus machte, dass er nur auf der Durchreise war. Sowohl Jack als auch Clancy finden sich im
Goldenen Notizbuch
. Nicht unbedingt die Tatsachen, aber die emotionale Wahrheit steckt darin. Das Gleiche gilt für
Spiel mit einem Tiger
. Später schrieb Clancy einen Roman und verwendete mich darin, aber ich habe ihn nicht gelesen. Ich lese für gewöhnlich keine Bücher über mich selbst, es sei denn, es ist ein angeblich auf Tatsachen beruhendes Buch, und ich muss die Fakten nachprüfen. Ich lese sie deshalb nicht, weil die Versuchung, sich in Proteste und Streitereien zu ergehen, sich als unwiderstehlich erweisen könnte; man kann sein ganzes Leben damit verbringen.
    »Aber das habe ich nicht gesagt.« – »Doch, das hast du.«
    »Das habe ich dir nicht erzählt.« – »Doch, das hast du.«
    »Habe ich nicht.« – »Hast du doch.« – »Habe ich nicht.« – »Hast du doch.«
    »Das ist nie passiert.« – »Ich weiß, dass es passiert ist.«
    »Ich weiß, dass es nicht so war.« – »Doch, das war es.« – »War es nicht.« – »War es doch.«
    Die meisten Meinungsverschiedenheiten dieser Art spielen sich gewöhnlich auf diesem Niveau ab. Was für den einen wahr ist, ist es nicht unbedingt auch für den anderen.
    Clancy lebt heute mit einer jungen Frau und einem Säugling in Kalifornien. In der Zwischenzeit hat er eine erste Ehefrau und viele andere Frauen gehabt. Als ich ihn kannte, waren häusliches Leben, Intimität – alles, was für mich so natürlich ist – für ihn nicht nur eine Falle, wie junge Männer dergleichen so leicht sehen – und zumal damals, da war es die Regel –, sondern ein Verrat am Reinen, Guten, Anständigen, eine Unterwerfung unter die bourgeoise Moral; und etwas Schlimmeres konnte es damals natürlich nicht geben. Er erzählte, wie er einmal aus dem Haus eines Freundes in den Staaten hinausgerannt war, weil der Mann geheiratet hatte – der Inbegriff der Unterwerfung –, und im Badezimmerschrank hatte eine Tube mit empfängnisverhütendem Gel gelegen. Das galt ihm als Beweis für den

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