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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Dinge, von denen ihr glaubt, dass sie mir gefallen.‹ Und dann fuhr er mit seinen Wachen ab.«
    Ich habe diese Geschichte auch über andere Diktatoren gehört. Ganz offensichtlich kommt man um diesen »einen ehrlichen Mann« nicht herum.
    Ich mochte Samuel Marschak, und ich glaube, er mochte mich auch. Aber was er brauchte, war jemand, der ihm zuhörte, ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Er war einsam, obwohl er ein bedeutender sowjetischer Schriftsteller war.
    Er wollte Peter kennenlernen. Als er das nächste Mal kam, trafen wir uns am Tag und tranken in einem Park Tee. Dann gingen wir einkaufen, um Marschak ein Paar Schuhe zu besorgen, denn alle auf Besuch weilenden Russen kauften Schuhe und gute Kleidung. Peter gefiel ihm, und Peter mochte ihn. Er schenkte Peter ein sehr schönes Messer und einige seiner Kindergedichte auf Russisch. Er schrieb ein paar Verse für Peter, aber ich weiß nicht, wo sie geblieben sind. Später kam Marschaks Sohn, ein Arzt, zu Besuch, und ich wurde von der Botschaft angerufen und gefragt, ob ich mit ihm Schuhe und Kleidung einkaufen gehen könne.
    Ich kann mir keinen Schriftsteller mit einem schlimmeren Schicksal als dem von Samuel Marschak vorstellen. Damals musste das Dasein als Bauernjunge mit Genie – oder auch nur Talent – gleichbedeutend mit der Verheißung einer großen Zukunft gewesen sein. Gorkis Protegé zu sein bedeutete, dass er von den berühmtesten Schriftstellern Russlands akzeptiert wurde. Gorki bekämpfte Lenin wegen der Inhumanität seiner Politik und erreichte damit die Freilassung von Hunderten von politischen Gefangenen, und dann stellte er sich auch gegen Stalin; Marschak muss es leichtgefallen sein, sich der guten Seite der Revolution verbunden zu fühlen, denn damals konnte man noch glauben, dass es so etwas gab. Allmählich wurde er von den Strukturen der Unterdrückung aufgesogen, aber er war sich dessen kaum bewusst. Als er dann wusste, dass er in der Falle saß, war es zu spät. Leute, die politischen Terror nie am eigenen Leib erfahren haben, können leicht sagen: »Er hätte sich verweigern müssen.« Wie? Er wäre zum Sterben in den Gulag geschickt worden, wie Dutzende andere Schriftsteller auch. »Ich habe nie geschrieben, was ich eigentlich hätte schreiben sollen«, sagte er. »Ich hätte so sein können wie Gorki. Mein eigentliches Talent war das Realistische. Ich hätte über das schreiben müssen, was ich um mich herum sah.« Noch heute löst der Name Samuel Marschak unter russischen Intellektuellen ein außerordentliches Maß an Verachtung aus. Man hat den Eindruck, dass sie beim Klang des Namens am liebsten ausspucken würden (ein sehr russischer Ausdruck von Verachtung, in ihrer Sprache verankert): Er hatte den Stalinpreis bekommen, er war synonym mit sowjetischer Macht. Nur mit Widerstreben geben die sowjetischen Intellektuellen zu, dass er gute Übersetzungen von Burns, Shakespeare und anderen geschaffen hat. Aber war der traurige und bescheidene alte Mann, den ich kannte, nicht ebenso sehr ein Opfer wie Gorki, der von Stalin ermordet wurde?
    Eine Episode, die nicht einer gewissen Komik entbehrte, spielte sich ab, als der sowjetische Kulturattaché – sein Name ist mir entfallen – sagte, er würde mich gern treffen und sich mit mir unterhalten – worüber? Vermutlich Literatur. Ich reagierte so, wie ich es auch bei jedem anderen getan hätte, und lud ihn zum Lunch ein. Als er ankam, traf er mich allein mit einem für zwei Personen gedeckten Tisch an – das war noch in Joans Haus. Er hatte weitere Gäste erwartet, ein Essen in größerem Kreis. Er ließ den Blick über die Bücher und Papiere gleiten, die überall herumlagen, und sagte: »Sie sind eine richtige Schriftstellerin, das ist nicht zu übersehen.« Er war nervös, und ich tat, als bemerkte ich es nicht. Ich dachte, ich denke gar nicht daran, mich anders zu verhalten als sonst, nur um mich ihren stupiden Ideen anzupassen. »Ich kann nicht hier mit Ihnen allein essen«, sagte er. »Das könnte missverstanden werden.«
    »Ach, wirklich?«, sagte ich entwaffnend. Er war ein netter Mann, keineswegs wie ein Funktionär. Ich ging mit ihm in den French Pub, in dem es im Obergeschoss ein gutes Restaurant gab, und erzählte ihm die Geschichte des Freien Frankreich und dieses Pubs und wie am 14 . Juli die Leute auf den Straßen tanzten. Das alles gefiel ihm. Er wollte überhaupt nicht über Literatur reden und gestand, dass die Kultur ihn langweilte, und er hoffte, dass ich

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