Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
unehrlich zu sein. Irgendeine winzige Gefühlsregung, der bloße Schatten einer Wolke, kann zehn Jahre später einen Sturm an Offenbarung auslösen: über einen selbst, über andere, über eine Zeit. Er kann sich aber auch aufgelöst haben und verschwunden sein.
    Was mir Unbehagen zu bereiten begann, war die romantische Einstellung, um nicht zu sagen Sentimentalität der Linken, die keineswegs nur auf Kommunisten beschränkt war und von der die Linke noch heute durchdrungen ist. Sentimentalität ist nur allzu oft eine Begleiterscheinung extremer Brutalität oder kann zu ihr führen. Theatralisierung. Die Rote Fahne, die im Geschosshagel von sterbenden Helden auf einem Berg aufgepflanzt wird. Die Erstürmung der Bastille. Die Erstürmung des Winterpalasts; die beiden Letzteren so stark mythisiert, dass sie mit den Tatsachen nicht mehr die geringste Ähnlichkeit aufweisen. Ich könnte hier ein oder zwei Seiten füllen – was sage ich, ein Buch.
    Was diesen Männern und Frauen von der Linken wichtig war (und ist), war immer das Dramatische oder sogar das Melodramatische, aber nie irgendwelche kleinen, nüchternen Arbeiten oder Bemühungen. Es gibt unter den Linken (und anderswo) Menschen, die sich zeitlebens bemühen, eine Winzigkeit des Lebens für jedermann zu verbessern, nicht aber in der Linken, der ich angehört hatte. Clancys Geschichte der Vereinigten Staaten bestand nur aus heroischen Schlachten und oft blutigen Konfrontationen mit der Regierung. Bergleute gegen skrupellose Grubenbesitzer – nein, ich behaupte nicht, dass es keine skrupellosen Grubenbesitzer gab, und die Leute haben vergessen, wie brutal sie oft waren. John Browns verwesende Leiche; die Gerichtssäle, in denen Clarence Darrow für Liberalismus und die Wahrheit kämpfte; die Suppenküchen der Großen Depression – Clancys Vision platzierte sie in die Mitte der Bühne und schloss alles andere aus.
    Es gibt eine Geschichte Großbritanniens, die nur aus Heroismus und großen Ereignissen besteht. Clancy kannte sie nicht weniger gut als die amerikanische Saga, und in keiner von ihnen war von einem Mann oder einer Frau die Rede, die jahrelang daran arbeiteten, das eine oder andere
kleine
Gesetz zu ändern.
    Ich muss meine »Zweifel« – und die hatten nichts mit den »Enthüllungen« aus der Sowjetunion zu tun – hier festhalten, obwohl sie mir damals so viel Unbehagen bereiteten und in sich so widersprüchlich waren.
    Manchmal überlasse ich mich meinen Gedanken – den neuen, mit ihrem Hang zum Skizzenhaften, der typisch ist für unerprobte, von Ereignissen noch nicht überformte Ideen, oder denen, die über ihre eigene Unverfrorenheit verblüfft sind – und frage mich, welche von ihnen sich als diejenigen herausstellen, auf die ich hätte hören und die ich hätte weiterdenken sollen. Welche von ihnen werden in ein oder zwei Jahrzehnten absurd oder sogar kläglich erscheinen?
    Clancy war ziemlich krank, als er eintraf; er konnte sich nur unter Mühen auf den Beinen halten. Er kam aus Paris, wo ihm eine gute Freundin, eine in Paris lebende Amerikanerin, gesagt hatte, er sei verrückt. Das hatten ihm die Leute schon seit Jahren gesagt. »Clancy, du musst dich damit abfinden.« Er war gerade zu dem Schluss gekommen, dass an dem, was sie sagten, etwas dran sein könnte. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er in mir einen guten Ersatz für einen Psychotherapeuten sah. Er war jünger als ich.
    Nach dem kalten, aber nützlichen Maßstab, den ich an Jack, Gottfried und andere angelegt hatte, passten Clancy und ich gefühlsmäßig sehr schlecht zusammen – das vor allem –, und auch sexuell, aber das lag daran, dass sich die kühle, sachliche Art, mit der sich so viele Amerikaner damals von Emotionen distanzierten, als ausgesprochen hinderlich auswirkte; intellektuell dagegen lief alles bestens, eine Zeit lang. Vor allem hatte er einen umfassenden Lektürehorizont. Seine Mutter, eine in die Staaten eingewanderte Russin und sehr arm, sah sich – ebenso wie sein Vater – als Erbin der größten revolutionären Bewegung der Welt, und das schloss naturgemäß die Literatur ein. Sowohl Vater als auch Mutter gehörten zu den Agitatoren und Organisatoren der Gewerkschaft, die ständig ihre Jobs verloren und weiterziehen mussten. Das Aufziehen ihres Kindes war der Revolution immer nachgeordnet. Kurzum, Clancy war ein Überlebender, einer der außergewöhnlichsten, die ich je gekannt habe. »Kein Wunder, dass du so verkorkst bist«, pflegte ich

Weitere Kostenlose Bücher