Schritte im Schatten (German Edition)
zu ihm zu sagen, und er erwiderte darauf: »Lady, nicht ich bin verkorkst, alle anderen sind es.«
Er war Trotzkist. Das hatte ihn in doppelter Hinsicht zum Außenseiter gemacht. Zum einen als Revolutionär im paranoiden Amerika. Zum zweiten als Verräter am Kommunismus und der Kommunistischen Partei. Das bedeutete, dass er die Minderheit einer Minderheit war. Es war seine Mutter, die zu dem Schluss kam, dass sie, wenn die Sowjetunion stalinistisch war, Trotzkistin war. An der Universität war er jahrelang von den Stalinisten beschimpft und verabscheut worden. Damals kam er zu seinem Recht. Wenig später sollte die revolutionäre Jugend in Großbritannien und überall sonst in Europa trotzkistisch werden.
Ein paar Worte über diese alten Schismen, denn sie geraten schnell in Vergessenheit. Die kommunistischen Parteien in aller Welt waren stalinistisch, und Trotzki war in ihren Augen ein Ketzer und Verräter. Aber die neue Jugend zeigte sich davon überzeugt, dass, wenn Trotzki und nicht Stalin den Kampf um die Macht in der Sowjetunion gewonnen hätte, der Kommunismus als Utopie zu sich selbst gefunden hätte. Isaac Deutscher, der Historiker der Sowjetrevolution, hat zwei Bücher über Trotzki geschrieben,
Der bewaffnete Prophet
und
Der unbewaffnete Prophet
. Sehr empfehlenswert. Sie liefern einen Bericht über die politischen Kämpfe jener Zeit, gesehen im Licht der Auseinandersetzungen zwischen Stalin und Trotzki. Es ist unschwer zu erkennen, dass die beiden oft die Plätze tauschten, wobei der eine dann für etwas eintrat, dessen verräterischen und irrigen Charakters wegen er seinen Rivalen kurz zuvor noch angegriffen hatte. Es ist, als schaute man einem Tanz von Marionetten zu. Und all diese kleinen Strohmänner werden von einem großen Wasserfall hinweggeschwemmt. Die Bolschewiken, die die Geschichte der Französischen Revolution studiert hatten, hatten beschlossen, dass sie sich nicht gegeneinanderstellen, einander anklagen, einander umbringen würden wie die französischen Revolutionäre. Aber genau das haben sie getan.
Isaac Deutscher hielt Lenin, einen der skrupellosesten Mörder der Geschichte, für den
vollkommenen
Menschen. Eine interessante Auffassung von geistiger Tradition.
Einer von Lenins Beiträgen zum Glück der Menschheit war die Idee der »Permanenten Revolution«, was in der Praxis nichts anderes bedeutete, als dass die Mitglieder der Kommunistischen Partei regelmäßig und stetig ermordet, gefoltert, ins Gefängnis geworfen und in die Lager geschickt werden mussten, damit keiner aus der Reihe tanzte. Eine Politik, der Stalin auf die ihm eigene Art treu blieb.
Ich bekam eine Ahnung davon, wie es gewesen sein musste, in Amerika ein Trotzkist zu sein, als ich Clancy mit Reuben Ship, Ted Allan und dem Rest der Gruppe bekannt machte. Sie alle waren Stalinisten gewesen. Sie begegneten einander mit einem ironisch-sarkastischen Unterton und verfielen sofort in bittere Debatten. Immerhin redeten sie miteinander, wo doch noch kurze Zeit zuvor kein Stalinist einen Trotzkisten eines Hallos für würdig befunden, sondern ihm am liebsten mit einem Eispickel den Schädel gespalten hätte.
Ich erinnerte mich an die trotzkistische Gruppe in Salisbury. Damals hatte ich sie insgeheim für lebendiger und interessanter gehalten, als wir es waren. Es gab so etwas wie einen Trotzkisten von Natur aus: anarchistisch, spitz, überaus aggressiv, komisch.
In den Fünfzigern machte in der Partei ein Witz die Runde, demzufolge Stalinisten und Freudianer aus demselben Holz geschnitzt seien, angepasst und konservativ, ebenso Trotzkisten und Jungianer – mit anderen Worten,
alle waren sie Rebellen
. Die Dinge haben sich so tief greifend gewandelt, dass sich heute nur schwer erklären lässt, wie Freudianer damals zu sein schienen. Sie waren eine Kirche, eine Priesterschaft, im Besitz einer offenbarten Wahrheit; sie verfolgten Widersacher oder Leute, die von ihrem, dem rechten Weg abgekommen waren. Sie waren humorlos. Sie waren paranoid. Ich kann nicht behaupten, dass ich Freud für das liebenswerteste aller menschlichen Wesen halte, ebenso wenig wie Marx, aber bestimmt hätten beide ihre »Erben« gehasst. Menschen, die originelle Ideen haben, etwas in Gang setzen, müssen doch gequält werden von dem, was, wie sie wissen, eintreten wird: Sie bringen eine Generation bissiger Hunde hervor, die sich um ihre Hinterlassenschaft balgen, sie in Ikonen verwandeln und dann zu guter Letzt zu einer Meute eifernder Fanatiker
Weitere Kostenlose Bücher