Schritte im Schatten (German Edition)
herausfinden können, was Du denkst, indem Du es niederschreibst.
Neulich nachmittags hatte ich den Eindruck, dass Du und Randall der gleichen Ansicht wart, nämlich der, dass ihr, sofern ihr euch nicht darstellen und rechtfertigen könntet, wie ihr es in den letzten rund fünfzehn Jahren getan habt, euch selbst im Stich lassen würdet. Aber wir sind alle in diese Sache verwickelt gewesen, die so korrumpierend war, und daran gibt es nichts zu rechtfertigen, was Leute interessieren könnte, die nichts damit zu tun hatten. Ihr beide, Edward Thompson und Randall Swingler, steht und fallt heute nicht mit Erklärungen … Wenn Du glaubst, dies wäre eine sehr emotionale Art, auf euer Verlangen nach philosophischer Klarheit zu reagieren, dann erwidere ich, dass Deine Einstellung im Grunde überhaupt kein Verlangen nach einer Philosophie ist, sondern ein heftiges Bedürfnis, Dich selbst zu erklären.
Du bist ein reiner und hochgesinnter Kommunist gewesen und hättest bis vor Kurzem das Böse darin nicht akzeptiert, und nun ist Dein Idealismus verletzt und Dein Bild von Dir beschädigt.
Setz Dich an die Schreibmaschine, mein lieber Edward. Du kannst Deine Erfahrung in Kunst ummünzen, und als solche kann sie anderen vermittelt werden. Aber was haben Deine verlorenen Gefühle mit Philosophie zu tun?
Ich bin überzeugt, dass wir in einer Zeit leben, in der kaum damit zu rechnen ist, dass es irgendwelche Philosophien gibt, denen wir anhängen können. Der Marxismus ist keine Philosophie mehr, sondern ein Regierungssystem, das von Land zu Land verschieden ist.
Was eine gute Sache ist. Jede Philosophie, die länger als fünfzig Jahre Bestand hat, muss schlecht sein, weil sich alles so schnell ändert.
Ich weiß, dass ich Sozialistin bin, und ich glaube an die Notwendigkeit einer Revolution, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Aber ob die Ökonomen wie Ken und John oder die Historiker als Marxisten recht haben, weiß ich nicht. Wie kann man das wissen? Mir scheint, dass es sich bei sehr vielen der Konzepte, die wir als marxistisch bezeichnet haben und die auch von Leuten geteilt werden, die keine Marxisten sind, einfach um eine Reflexion der Zwänge der Zeit handelt, in der wir leben.
Ich will keine weiteren Konzepte. Für mich selbst, meine ich.
Ich will in irgendeiner Art von Wissen aufgehen, aber ich weiß nicht, was es ist.
Glaubst Du, dass sich etwas für den Gesichtspunkt anführen lässt, dass Kommunist zu sein nie (außer für sehr wenige Leute) eine Sache des intellektuellen Standpunkts gewesen ist, sondern eher eine Art Teilhabe an einer moralischen Inbrunst?
In mir ist keine moralische Inbrunst übrig geblieben. Niemand, der sich für das Blutvergießen und den Zynismus der letzten dreißig Jahre verantwortlich fühlt, kann sich moralisch über die Grausamkeiten des Kapitalismus entrüsten. Ich jedenfalls kann es nicht.
Was ich empfinde, ist eine ungeheure Freude und Genugtuung darüber, dass die Welt so rasch voranschreitet, dass die Bauern in China nicht mehr verhungern, dass die Menschen in aller Welt sich genügend für ihre Mitmenschen interessieren, um für das zu kämpfen, was sie in diesem Moment für Gerechtigkeit halten. Ich fühle eine Art komplizierten, gigantischen Bewegungsfluss, von dem ich ein Teil bin, und es bereitet mir eine tiefe Befriedigung, darin zu sein. Aber was hat das mit politischen Einstellungen zu tun?
Ich möchte eine Menge Bücher schreiben.
Und mir ist schlecht von dem schalen Dunst von dreißig Jahren toter politischer Worte.
Ich weiß recht gut, dass dieser Brief Dir das Gefühl geben wird, ich ließe Dich im Stich, weil Du auf etwas von mir wartest. Aber das kann ich nicht ändern. Du solltest von Leuten wie mir keine Gewissheiten verlangen.
Mir ist, als wäre ich aus einem Gefängnis entkommen.
Aber vor allem bin ich überzeugt, dass Du Dich vor eine Schreibmaschine setzen und Dich selbst fragen solltest, was Du denkst.
Alles Liebe
Doris
Der Hintergrund von alledem war Folgendes: Sollten Edward Thomson, John Saville und die Übrigen zulassen, dass sie aus der Partei ausgeschlossen wurden? Ich war entschieden nicht dieser Ansicht. Aber während dies alles vor sich ging, waren meine Unterhaltungen mit Clancy und anderen der reinste »Trotzkismus«. Irgendwo glaubten wir »Revisionisten« immer noch, dass die Partei gesäubert und reformiert werden konnte. Edward forderte Versammlungen – offene Treffen mit der Führerschaft, um alles »ans Licht
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