Schritte im Schatten (German Edition)

stattgefunden hatten, wurden mit einem Mal für alle Welt sichtbar. Die Jugend war zurückgekehrt. Diejenigen unter uns, die sich über die Gleichgültigkeit der Jugend gegenüber der Politik beklagt hatten, mussten jetzt feststellen, dass junge Leute überall ihrer Meinung lautstark Ausdruck verliehen und oft an unsere Türen klopften – nein, hämmerten –, um unsere Unterstützung für hundert wundervolle politische Pläne zu gewinnen. Wenn sie sich beschwerten, dass es einem an Inbrunst fehle, dann war man geneigt zu murmeln: »Sie müssen verstehen, das ist alles andere als mein erster Aufbruch – und es tut mir leid, aber ich habe gelernt, der Inbrunst zu misstrauen.« Eine nicht sehr erfreuliche Einstellung, wie ich wusste, denn ich brauchte nur auf meinen eigenen ersten Aufbruch zurückzublicken – und das konnte doch nicht erst fünfzehn Jahre her sein? –, dann sah ich meine eigenen blitzenden Augen und inbrünstigen Überzeugungen, meinen Abscheu vor gemäßigten, hinhaltenden und spöttischen älteren Leuten.
    »Die sind doch alle Trotzkisten«, sagte vielleicht einer von uns zu einem anderen, vielleicht am Telefon, um einem früheren Stalinisten das Neueste zu berichten. »Und wenn schon«, sagte dann er oder sie vielleicht gelassen, »schließlich können sie heutzutage kaum Stalinisten sein. Weshalb müssen sie überhaupt irgendwelche
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sein?« Aber das ging damals zu weit.
    Für manche Leute war dies keineswegs eine Zeit der Euphorie und Erneuerung. Nehmen wir Haimi Levy, der ausgezogen war, »die Partei in Moskau selbst« wegen des Schicksals der Juden zur Rede zu stellen. Die britische Kommunistische Partei reagierte nicht auf seine Forderung, dass die Wahrheit gesagt werden sollte. Er war ein armer Jude aus dem East End. Die Young Communist League und dann die Kommunistische Partei waren für ihn und viele seinesgleichen alles gewesen – Universität, Bildung, Errettung aus jener Art von Armut, die es heute in Großbritannien nirgendwo mehr gibt. Er hatte einen Bruder, der ebenso intelligent war wie er. Die Familie konnte nur einen von ihnen auf die Universität schicken. Die Brüder losten darum. Haimi Levy studierte und wurde der brillante und hochgeachtete Professor für Mathematik am Imperial College, während sein Bruder Geschäftsmann wurde und gleichfalls Erfolg hatte; er unterstützte Haimi finanziell und auch in anderer Hinsicht mit größter Hingabe. Die Brüder halfen einander zeitlebens. Für Haimi war der Zusammenbruch des Kommunismus etwas, von dem er sich nicht wieder erholen sollte. Er starb wenig später am Schmerz der Desillusionierung, da bin ich ganz sicher. Und es gab noch andere wie ihn, mit gebrochenem Herzen.

Eine Versammlung
    General de Gaulle schränkte in Frankreich die Pressefreiheit ein. In London fand eine Protestversammlung statt: De Gaulle entwickelte sich zu einem Diktator. Es war eine Nachmittagsversammlung, und ich erinnere mich aus zwei Gründen an sie. Einer davon war, dass ich dort einen Blick in die Vergangenheit tun konnte. Isaac Deutscher sprach. Er trug eine Art militärischer Kleidung, und er marschierte aufs Podium, blickte angestrengt nach »vorne«, in die Zukunft, und stand dann da und redete in einem wuchtigen, phrasendurchsetzten Stil, während seine rechte Faust rhythmisch auf die Luft einhieb. Lenin höchstpersönlich!, dachten wir alle; hier war die Verkörperung der Alten Garde. Was er gesagt hat? Ich habe keine Ahnung. Der andere Grund dafür, dass mir diese Versammlung im Gedächtnis geblieben ist, ist der, dass, als ich meinen Platz auf dem Podium einnahm, um die Demokratie zu verteidigen, ein Mann aus dem Publikum rief: »Kommen Sie gerade aus dem Bett?« Beifälliges Gelächter. Ich war empört, schließlich hatte ich schon den ganzen Vormittag schwer gearbeitet. Ich trug einen roten Rock und eine schwarze Bluse und passte offensichtlich in eine Schablone. Aha, La Pasionaria, aha, Rosa Luxemburg, und wie die Gespenster dieser und ähnlicher Frauen alle heißen mögen, die in den Köpfen der Männer der Linken spuken! (In denen der Frauen weniger.) Aber damals wurden mir unsere heroischen Fantasien, das furchtlose Gebaren von Tag zu Tag verdächtiger. Wer saß sonst noch auf dem Podium? Ich erinnere mich nur an Spike Milligan, im Vergleich zu Deutscher ein Unterschied wie Tag und Nacht, der eine humorvolle, ruhige und vernünftige Rede hielt, in der er alle Exzesse verurteilte. Ich fühlte mit ihm, weil ich wusste, dass er zu