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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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überwältigen wird? Nein, ich glaube es nicht, weil ich mich aus diesen potenziellen Katastrophen herausschreibe.
    In meinem Denken gibt es ein Muster, es muss eines geben, nach dem Ordnung in Unordnung und Extreme zerbricht. Es entstammt dem Ersten Weltkrieg und der Vernichtung meiner Eltern durch ihn. Dieses Muster muss auch im Denken anderer Leute vorhanden sein, denn wir leben nicht isoliert auf der Welt.
    Lange nach der Zeit, über die ich hier schreibe, den fünfziger Jahren, habe ich Folgendes erlebt: Manchmal ist es nützlich, sich eine Geschichte vorzustellen, eine Story, ein Ereignis, jemanden, der mit einem spricht. In dieser speziellen Geschichte muss ein alter Mann, ein Holzfäller, sehr früh am Morgen sein Haus verlassen und einer Stimme folgen, die ihn ruft. Ich hatte mir den Berg vorgestellt, seine baumbestandenen Hänge und tief unten an diesen Hängen die kleine Hütte des Holzfällers. Ich konnte das Mondlicht, das bereits schwächer wurde, weil der Morgen nahte, auf den Bäumen und auf der Erde sehen. Der alte Mann ging über den unebenen Boden in den Wald, aber dann … dann konnte er nicht weitergehen, weil auf seinem Pfad ein Abgrund gähnte. Ich schleuderte eine Brücke über diesen Abgrund, und der alte Mann ging darüber, aber bevor er die andere Seite erreicht hatte, rutschte die Erde ab, also verlängerte ich die Brücke, und er brachte sich in Sicherheit und befand sich dann auf dem sanften Abhang eines Bergausläufers, wo er jeden Fußbreit Boden kannte, weil er sein ganzes Leben hier gelebt hatte, aber jetzt, als er darauf entlangwandern sollte, bröckelte er unter ihm weg. Um den alten Mann von der Hintertür seiner Hütte dorthin zu bringen, wo er sich schließlich hinsetzte, völlig erschöpft, und auf die Stimme wartete, war eine geduldige Konstruktion und Rekonstruktion der gesamten Route erforderlich, das Bauen von Brücken und Bachüberdachungen, während die ganze Zeit über der Boden in Erdrutschen und Geröll wegbrach.
    Darin muss ein Grundmodell meines Denkens liegen, denn was könnte die Metaphorik sonst anzielen? Manchmal kann eine Kleinigkeit – es kann einem wie eine Kleinigkeit vorkommen –, wie die Unfähigkeit, die simple Aufgabe zu lösen, einen alten Mann auf einem imaginären Pfad über die Ausläufer eines Berges wandern zu lassen, einem derartig viel über die Art verraten, mit der man auf das Leben blickt, dass sich mit einem Mal die ganze eigene Vergangenheit infrage stellt.
    Wenn es nur die eine Person wäre, ich, dieser kleine tränenreiche Schauplatz, vereinzelt, wen würde es dann kümmern?
     
    Ein paar Monate bevor ich aus der Warwick Road auszog, kam eine alte Frau zum Putzen und Aufräumen, aber vor allem, um mich auf meinen gesellschaftlichen Rang zu verweisen, denn sie gehörte zur britischen Aristokratie. Es war Miss Ball, über siebzig, immer noch arbeitend, weil sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet hatte und von Müßiggang nichts hielt. Als sie das erste Mal kam, um festzustellen, ob ich ihr passte, bat ich sie, sich zu setzen. »Danke, aber ich weiß, was sich gehört«, sagte sie in der Mitte der Küche mit dem himmelblauen Fußboden, der roten Tapete und den weißen Wänden stehend, und auf dem Tisch standen die weißen Becher mit blauem Rand, die damals jedermann hatte. Miss Ball war groß, sie war hager, sie hatte große, knochige rote Hände, und sie trug einen grauen Utility-Mantel, einen fleckigen Filzhut mit einem grauen Netzkäfig darum, und an den Füßen einstmals elegante graue Wildlederschuhe, mit einem großen Loch in jedem Schuh für ihre Hühneraugen. Sie sagte, sie sei mit siebzehn aus dem West Country gekommen, um in einem Haus in London zu arbeiten. Einem guten Haus, sagte sie, meine Küche verächtlich betrachtend. Einmal habe sie für einen Herzog gearbeitet. Sie habe in Etablissements mit dreißig Hausangestellten gearbeitet. Früher hätte sie die Arbeit, die sie jetzt tun müsse, nicht einmal angeschaut. Das alles erzählte sie mir mit der sanften Stimme des guten Dienstboten und mit kalten, bösartig beobachtenden Augen. Wie sehr sie mich hasste, wie sehr sie all ihre jetzigen Arbeitgeber hasste.
    Sie kam an zwei Vormittagen in der Woche, und ich zahlte ihr den Höchstlohn für diese Arbeit, damals so schlecht bezahlt wie heute, und sie nahm die Münzen entgegen und steckte sie in eine lederne, ehemals tiefschwarze Handtasche, die jetzt schlaff und silbrig vor Alter war.
    »Hallo, meine Liebe«, pflegte sie mich zu

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