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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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sie immer noch high, verrückt, außer Kontrolle waren. Ich hielt das damals für kriminell und tue es noch heute. Die Behandlung fand zweimal die Woche statt, und ich war jedes Mal fast verrückt vor Angst. Auch Joan machte sich Sorgen. Wir pflegten uns gegenseitig anzurufen.
    »Ist Clancy bei dir?«
    »Nein, ich dachte, er wäre bei dir.«
    Es konnte sein, dass er auftauchte und zu einer von uns beiden sagte: »Ich muss mich hinlegen.« Oder wir wussten überhaupt nicht, wo er steckte. Nun, er hat es überlebt, also könnte dieser Arzt vermutlich sagen: »Weshalb regen Sie sich so auf? Es geht ihm doch gut, oder etwa nicht?« Aber es hätte leicht sein können, dass es ihm nicht gut ging. Ich wusste, dass ich unter dieser Panik, dieser ständigen Angst litt, weil ich das Schicksal meines Vaters noch einmal durchlebte, der in den Tod davondriftete, aber, als es zu Ende ging, mit Injektionen von Insulin und Gott weiß welchen Drogen am Leben erhalten wurde. Aber was nützt es, etwas zu wissen, wenn es keinen Einfluss darauf hat, wie man sich verhält? Ich scheine viel zu viele Zeiten durchlebt zu haben, in denen ich mein Verhalten oder meine Gefühle mit dem Verstand beobachtet habe – satirisch, missbilligend, besorgt –, aber nicht imstande war, mein Verhalten zu ändern.
    Ich ging wieder zu Mrs. Sussman, nach einer Unterbrechung von drei oder vier Jahren. Sie saß da, hörte mir zu, mit ihrer auf die Hand gestützten Wange. Das Band zwischen uns war eindeutig zerrissen. Sie schien sehr weit weg zu sein. Sie sagte: »Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, Sie mehr Vernunft zu lehren.« Dann sagte sie: »Ich bin eine sehr alte Frau. Ich werde bald sterben. Ich bereite mich auf meinen Tod vor. Guten Morgen.« Es war eine heilsame Erfahrung, dass man ein Stadium erreichen würde, in dem alle Gefühle schlicht und ergreifend belanglos waren.
    Diesmal war mein Trinken bedenklich. Das Trinken während meiner ersten Ehe habe ich nie als bedenklich empfunden. Es war dumm, unüberlegt, und es zielte, wie man hätte meinen können, darauf ab, den größtmöglichen Schaden anzurichten – manchmal stundenlanges Trinken, ohne zu essen. Aber das war Trinken, weil ich mit Leuten, die ihrerseits tranken, zusammen war, und das in einer Kultur, die starkes Trinken nicht nur gestattete, sondern sogar bewunderte. Als ich meine erste Ehe hinter mir ließ, hörte ich mit dem Trinken auf. Ich war über zwei Jahre oder noch länger in London, als mir der Gedanke kam: »Ich habe kaum etwas getrunken, seit ich hierhergekommen bin.« Ich hatte kein Geld, und niemand um mich herum trank. Dann lernte ich die Kanadier kennen und begann abermals zu trinken, aber bei Weitem nicht so viel wie im alten Südrhodesien mit Frank Wisdom.
    Es gibt vermutlich einen anerkannten klinischen Zustand: die Frau in mittleren Jahren, die sich dem Trunk hingibt, weil sie sich verlassen, ungeliebt, unerwünscht fühlt. Genau so eine Frau war ich geworden. Ich ging zum nächsten Spirituosenladen, kaufte mir eine Literflasche Whisky und hatte sie geleert, bevor ich einschlief. Nicht jeden Abend. Und ich tat das vor allem dann, wenn ich Peter in seiner Schule besucht hatte. Aber diesmal war es kein geselliges, sondern ein süchtiges Trinken. Eines Morgens wälzte ich mich aus dem Bett und kroch auf Händen und Knien ins Badezimmer, um mich zu übergeben. Das ließ mich schlagartig wieder nüchtern werden. Ich dachte: Diesmal bist du wirklich eine Alkoholikerin. Hör auf damit. Und ich tat es. Ich zog nicht mehr los und kaufte Whisky. Ich betrank mich nicht mehr. Aber in dieser Zeit, schätzungsweise drei oder vier Monate lang, war ich genau das – eine Alkoholikerin.
    Will ich damit sagen, dass Männer nicht dem Alkohol verfallen? Doch, natürlich, aber nicht auf diese Art. Es kommt häufig vor, dass man einer Frau begegnet, deren Ehe oder irgendein Liebesverhältnis zerbrochen ist oder deren Kinder erwachsen und aus dem Haus sind, die zur Trinkerin geworden ist, und die Leute, die es miterleben, sagen: »Nun, sie wird darüber hinwegkommen.« Und in der Regel tut sie es.
    Ich weiß, dass ich mir mit diesen Worten – »Doris Lessing kroch auf Händen und Knien ins Badezimmer, um sich zu übergeben« – ins eigene Fleisch schneide. In diesen Worten liegt ein Problem für Schriftsteller: Gewisse Ideen, Worte, Redewendungen ragen gewissermaßen aus der Seite heraus, weil wir für sie sensibilisiert sind. Manchmal steht man als Schriftsteller vor

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