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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Heute glaube ich, dass das Bedürfnis, etwas zu lernen, die mächtigste Leidenschaft ist, die wir haben, und die tiefste, und dass junge Leute, wenn sie eine Zeitung oder »neue Wellen« oder Kommunen ins Leben rufen, in Wirklichkeit Situationen schaffen, in denen sie in kurzer Zeit sehr viel lernen können. Fast alle diese jungen Leute endeten auf den Universitäten und sind heute Professoren und schreiben Bücher und Artikel, treten im Fernsehen und im Rundfunk auf. Von den alten Gewissheiten ist bei ihnen nichts mehr übrig geblieben.
    Einer der Männer, die in meine Wohnung kamen und als Werber für eine gute Sache um Geld baten, genau wie ich es vor fünfzehn Jahren getan hatte, war Ralph Samuels. Da saß er, berauscht von seiner eigenen Überredungskunst, und ließ atemberaubende Fakten und Zahlen um unsere Köpfe wirbeln. Er war ein netter junger Mann, dessen leidenschaftliche Beschreibungen des Großbritannien, zu dessen Entstehen mein Geld beitragen würde, ihn plötzlich und mitten in seinen Fantastereien veranlassten, abzubrechen, den Kopf zurückzulegen und zu lachen. [29] Über sich selbst. Nun, dachte ich, unser Verein wäre auf dem Höhepunkt der Selbstberauschung zu diesem ehrlichen Lachen nicht imstande gewesen. Diese jungen Leute waren durchweg aufgeschlossener und weniger fanatisch, als wir es gewesen waren, selbst wenn sie in Trotzki keine geringere Leuchte für die ganze Menschheit sahen, als Stalin es einst für uns gewesen war. Sie waren ausgeglichener, sie waren nicht verrückt, im Gegensatz zu uns, wie ich heute glaube. Der Grund dafür war, sie steckten nicht in einem Krieg, lebten ohne all das Töten, die Katastrophen und die Propaganda. Denn so sehe ich unsere Leute heute – kriegsverrückt, auch wenn wir Hunderte oder Tausende von Meilen von den eigentlichen Kämpfen entfernt waren.
     
    Unabhängig von den Leuten, die die Neue Linke bildeten, spielten sich die Aktivitäten ab, die zu den Aldermaston-Märschen und danach zum »Komitee der Hundert« führen sollten. Ich wurde zu einer Versammlung im Haus von Canon Collins in der Nähe der St. Paul’s Cathedral eingeladen, wo die »Kampagne für atomare Abrüstung« ins Leben gerufen wurde. An diesem Abend waren eine Menge Menschen in diesem Zimmer, fast alle namhafte Persönlichkeiten von der Linken und jenseits davon. Ich saß da und dachte: Mein Gott, nicht schon wieder, etwas, das ich in Versammlungen immer dachte. Keine neue Organisation, einerlei, wie gut gemeint, einerlei, welchen Ruf ihre Gründer haben, entwickelt sich wie erwartet. Ich wunderte mich, dass diese (für mich grundlegende) Tatsache von niemandem begriffen wurde. Und je älter ich werde, desto mehr wundere ich mich darüber. Ich nahm nicht an der Diskussion teil; ich war Zuhörerin und Sympathisantin. Als ich das Zimmer verließ, stand Bertrand Russell an der Tür, und er hielt mich an und sagte mit einem autoritären Nicken, wie eine Gouvernante: »Und nun, hoffe ich, gehen Sie nach Hause und mit Ihrem Geliebten ins Bett.« Ich war ihm nie zuvor begegnet. Ich fand ihn impertinent und albern. Ich verstand die Bemerkung nicht. Später habe ich sie verstanden. Er hatte zur Bloomsbury Group oder ihren Randfiguren gehört. Diese Leute stellten für mich alles das dar, was bewundernswert und hervorragend war, vor allem in ihrer lebenslänglichen Loyalität füreinander, aber sie hatten diese alberne Macke. Sie reagierten auf die Heuchelei und das Stillschweigen der Viktorianischen Zeit über alles, was mit Sex zusammenhing, indem sie bei jeder Gelegenheit das Wort »bugger« benutzten, um zu beweisen, dass sie keine Heuchler waren, und sie galoppierten durch die Salons und wechselten unanständige Worte. All das war im damaligen Kontext verständlich, hatte aber an unpassenden Orten einen Nachgeschmack von Albernheit. Ich dachte: Dämlicher alter Philosoph.
    Wenig später fand der erste der Aldermaston-Märsche statt, der von London nach Aldermaston führte, nicht in umgekehrter Richtung wie die späteren Märsche. Es hatte seit Jahren fast jedes Wochenende Märsche und »Demos« gegeben, von den Kommunisten und von der Labour Party, und ich befand mich in einem Dauerzustand neurotischen Schuldbewusstseins, weil ich so selten daran teilnahm. Aber das war etwas anderes, es ging um »die Bombe«, und ich war nicht die Einzige, die so empfand. Nur eine kleine Gruppe von etwas über hundert Marschierern verließ London an diesem Tag, wie bei so vielen Märschen und

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